Dieser Tage habe ich ein faszinierendes Buch gelesen: „Die narzisstische Gesellschaft“ von Hans-Joachim Maaz. Es ist so erhellend, wie betrüblich, zu erfahren, wie narzisstische Verhaltensmuster unsere aktuelle Gesellschaft prägen. Sowohl individuell, als auch kollektiv. Damit ist der Narzissmus für uns alle direkt oder indirekt, ein wichtiges Thema. Ein sinnstiftender Umgang damit ist also für ein Leben in Balance wesentlich. Darum habe ich dem diesen und den nächsten Blogartikel gewidmet.
Selbstliebe ist nicht Selbstverliebtheit
Der Begriff Narzissmus entstammt übrigens mal wieder der Mythologie, die uns schon einige Symptomatiken zu charakterisieren geholfen hat. U.a. auch den bekannten Ödipus-Komplex, die Satyriasis (auch Donjuanismus genannt…) und die Albträume.
Die Sage von Narziss
Narkissos – oder Narziss war der junge Kerl, der in der griechischen Mythologie, bei der Vergewaltigung einer Nymphe durch einen Flussgott gezeugt wurde. Narziss wies schon früh alle Liebe anderer ab und verzweifelte schließlich beim Anblick des eigenen Spiegelbildes in einem Teich. Denn er konnte es weder umarmen noch küssen und also erdolchte er sich selbst. Damit erfüllte er ein Orakel, das seine Mutter vom Seher Teiresias erhalten hatte: ihr Sohn würde nur dann alt werden, wenn er sich selbst niemals kennen würde.
Doch das Spiegelbild vereitelt das (an dieser Stelle übrigens spannend, vereiteln heißt: nicht machen, kraftlos werden und eitel – auch im Sinne der eigenen Eitelkeit – heißt: nichtig, leer…) und er stirbt also…an seiner Eitelkeit. Oder freundlicher: an unerfülltem Selbstbegehren. Das musste er sowieso, damit diese mythologische Geschichte und ihre moralische Lehre daraus bis heute Sinn macht. (Nebenbei wirft dies auch die Frage auf: ob einem Wesen, das nicht aus Liebe gezeugt wurde, sondern aus Gewalt, vielleicht Gewalt näher ist als Liebe – schließlich bereitet Narziss sich selbst ein gewaltsames Ende…) Sein toter Körper verwandelte sich in eine Narzisse.
Aber die Moral ist natürlich: zu viel Narzissmus ist auf Dauer tödlich… drum liebe Kinder, nehmt Euch selbst bloß nicht zu wichtig, vermeidet Eitelkeit und Egoismus und übt Euch in Demut, sonst bleibt höchstens ein Gewächs von euch übrig. Oder so ähnlich. Das Programm kennen viele von uns. Aber trotzdem grassiert der Narzissmus und wenn man Maaz glauben mag, mehr als je.
Ursache für Narzissmus liegt laut Maaz in der frühen Kindheit
In seiner lebenslangen Praxis als Psychiater und Psychotherapeut kam Maaz zu der Erkenntnis, dass die Weichen für narzisstische Störungen in der frühen Kindheit gestellt werden – mit späterer Erziehung kann der Kurs kaum korrigiert werden.
Die massive ursprüngliche Verletzung, die in Narzissmus resultieren kann und es leider häufig tut, ist laut Maaz die fehlende elterliche Zuwendung in der frühen Kindheit. Es fehlt an Liebe, die das Kind in seinem wahren Wesen bejaht und bestätigt und es eben nicht zur Filialstelle der elterlichen Bedürftigkeit macht. Was jedoch bei Eltern, die ihrerseits oft stark traumatisiert ist, leider kaum möglich ist. Sie selbst sind oft schon narzisstisch gestört… Kurz: Narzissmus ist erblich bzw. die damit einher gehenden Verhaltensmuster übertragen sich auf vielerlei Ebenen.
Und weil viele in unserer Kultur deutlich von einem Popularitätswahn angetrieben werden, d.h. Anerkennung und Zustimmung, – die Scheinliebe anderer – um jeden Preis zu ergattern, kriegt man eine Ahnung, wie heftig der Narzissmus sein Unwesen treibt.
Das betrifft die Klatschzeitschriftenprotagonisten genauso, wie ihre glamourgeilen Leser; korrupte Politiker genauso, wie ihre permanent jammernden Wähler, gierige Banker genauso, wie ihre vertrauensseligen Gläubiger und den jüngsten Selfie-Wahn, mit seiner unkrautähnlichen Ausbreitung.
Narzissmus ist ein Ausdruck von Kompensationsmechanismen
Diese narzisstischen Defizite münden dann in das, was Maaz „Regulationsformen“ nennt. D.h. Verhaltensmechanismen, um den einstmaligen und scheinbar unheilbaren Schmerz zu kompensieren bzw. zu verdrängen. Dabei gibt es zwei Grundtendenzen.
Die eine folgt dem Leistungsprinzip, in dem derjenige durch überragende Leistungen immer wieder beweisen will, dass er doch liebenswert ist… Sein Selbstwert ist in hohem Maße von Anerkennung anderer, d.h. vom Erfolg und von einem Siegesgefühl abhängig.
Die andere folgt dem Selbsterniedrigungsprinzip. Dabei macht derjenige sich und anderen ständig klar, dass er hilflos und ohnmächtig ist. Jedes Scheitern ist also eine weitere offensichtliche Bestätigung seines negativen Selbstwerts. D.h. er sorgt unbewusst immer dafür, dass er sich als Verlierer fühlt.
Dabei folgt ein narzisstisch gestörter Mensch nicht unbedingt nur einer Tendenz. Abhängig von Situation und Verfassung schwankt er heftig hin- und her zwischen Größenwahn und Minderwertigkeitskomplex.
Denn ziemlich wenige Menschen verfügen offenbar über das, was Maaz eine ausreichende „narzisstische Sättigung“ nennt. D.h.sie haben ein gesundes Selbstbewusstsein, sind frei und unabhängig von der Bestätigung durch andere und können dennoch mit Kritik und Würdigung souverän umgehen.
Männlicher und weiblicher Narzissmus
Tatsächlich gibt es Unterschiede in der Ausprägung von männlichem und weiblichem Narzissmus, da in unserer frühen Entwicklungsphase geschlechtsbezogene Unterschiede in der Annahme eines Kindes oft eine große Rolle spielen. Frauen, die dem männlichen Geschlecht gegenüber unsicher sind oder es ablehnen, werden ihre Haltung in die Erziehung ihrer Söhne fließen lassen. Das sind Mütter, die in Extremfällen ihren Söhnen entweder das Gefühl geben, potentielle Gewalttäter und Taugenichtse zu sein oder sie zu ihrem persönlichen Retter und Erlöser stilisieren, ihn am besten noch über den „bösen Vater“ erheben.
Töchter dagegen „erben“ oft den angeschlagenen Selbstwert der Mutter, und müssen sich dann mit im Extremfall mit all den mütterlichen Projektionen und Hoffnungen was Schönheit, Jugend und Attraktivität angeht herumschlagen – das sind oft die Mütter die ihre Töchter in den Ballettunterricht und Misswahlen drängen und/oder ihnen permanent klar machen, dass sie bei allem Bemühen doch letztlich zu einem Mauerblümchendasein verurteilt sind…
Bei Müttern setzt – aufgrund der Schwangerschaft – dieses prägende Verhalten eher ein, aber auch Väter können schmerzhafte Spuren hinterlassen: Väter, die ihre Söhne nur dann anerkennen, wenn sie ihrem Erwartungen entsprechen und sie dabei in ein Bild zwängen, das ihnen gar nicht entspricht. Sie verachten dann oft die Söhne, z.B. wegen ihren mangelnden sportlichen oder wirtschaftlichen Leistungen. Auch Väter, die Söhne höher bewerten als Töchter, vermitteln ihren Töchtern immer das Gefühl nur Menschen zweiter Klasse zu sein – das sind dann oft Frauen, die später im Leben alles tun, um einem Mann zu gefallen.
Im Narzissmus treffen sich Muttersöhnchen und Vatertöchter
So begegnen sich in unserer Gesellschaft häufig narzisstische Muttersöhnchen und Vatertöchter. Einerseits die narzisstischen Männer. Sie tun alles für die Anerkennung der von ihnen bedienten Frauen, an erster Stelle meist die eigene Mutter… Und andererseits narzisstische Vatertöchter, denen die Anerkennung des Mannes, vor allem des Vaters und/oder des Chefs das allerwichtigste ist. Beide setzen tragischerweise immer die Bedürfnisse des einen Elternteils über die eines potentiellen Partners und über die eigenen. In der Hoffnung sich dadurch endlich als ausreichend liebenswert zu erweisen. Aber es reicht natürlich nie aus…
Unsere Gesellschaft hat für beide Geschlechter also ein Hauptmuster ausgeformt. Für ihre Kompensation und Schmerzverdrängung, sowie die Abwehr des nagenden Mangelgefühls von und der doch starken Sehnsucht nach Liebe.
In der Tiefe geht es um die Sehnsucht nach Liebe
Männer kompensieren ihren Narzissmus meist durch das Streben nach Machtfunktionen. Insbesondere dann, wenn der Kampf um die Macht zum Selbstzweck wird. Dann ist die Karriere wichtiger wird als alles andere. Ihnen geht es um maximale Einflussnahme, manchmal gar mit Hilfe von Manipulation.
Frauen kompensieren ihren Narzissmus häufig durch Schönheitswahn und einem Streben nach einem unerreichbaren Ideal. Denn die Unzufriedenheit mit dem eigenen Äußeren wird durch unsere Medien noch geschürt. Besonders auch durch die Werbung, die mit Nahrung, Kleidung, Make-up und sonstigen Mitteln die Optimierung des eigenen Äußeren verspricht. Dabei wird das erhoffte Wunder nie wirklich eingelöst.
Damit entspricht Maaz‘ Bestandsaufnahme exakt den Beobachtungen von Brené Brown zu der Erfahrung von Scham und Verletzlichkeit bei Männern und Frauen, wie ich sie bereits hier geschildert habe.
Ist Narzissmus wirklich unheilbar?
Maaz‘ hält Narzissmus für unheilbar, denn die Urwunden aus der frühen Kindheit, als es eben an Mutter- und/oder Vaterliebe so eklatant gefehlt hat, um einen gesunden Selbstwert zu entwickeln, bleiben ein Leben lang.
Deswegen hält Maaz Prävention für die beste Therapie. Er empfiehlt, darauf zu achten, dass unsere Kinder einen gesunden Selbstwert entwickeln können und ausreichend „narzisstische Sättigung“ erfahren. Dann müssen sie mögliche Defizite später nicht anderweitig kompensieren. Doch für Erwachsene, bei denen sich die narzisstischen Verhaltensmuster längst etabliert haben, sieht Maaz keine Möglichkeit die alten Verletzungen zu heilen.
Laut Maaz kann man nur lernen, damit gesund umzugehen. Doch dafür bedarf es der Bereitschaft und dem Willen, das eigene Leben, die eigene Geschichte und auch die Familie kritisch zu hinterfragen. Und dann gezielt und bewusst ein anderes Verhalten zu gestalten – oft begleitet von jahrelanger Psychotherapie. Wichtig ist dabei maximale Ehrlichkeit, die Bereitschaft den einstmals verdrängten Schmerz auch zu fühlen und überhaupt sich intensiv mit seinen Gefühlen auseinanderzusetzen.
Allerdings ist gerade der Narzissmus selbst oft der größte Hemmschuh bei diesem Prozess. Die leistungsorientierten bevorzugen Psychopharmaka und die Leidensorientierten halten eine Therapie eh für aussichtslos…denn sich „besser“ zu fühlen läuft ihrer Prägung zuwider…
Nach meiner Erfahrung und Beobachtung ist Narzissmus jedoch durchaus heilbar. Mehr dazu im folgenden Artikel.