Die Macht der Biologie

873 931 Elisabeth Karsten

Es ist Sommer. Es ist heiß. Wir wollen so wenig Kleidung wie möglich tragen, am liebsten gar keine… Aber wir sind nicht unter afrikanischen Eingeborenen, die fröhlich ohne Oberteile und oft gerade mal nur mit Lendenschurz/Rock umherlaufen. Uns befallen da, wenn nicht Prüderie, so doch eine gewisse Verklemmtheit.

Konditioniert, wie wir es von unserer Kultur sind, tragen wir also brav Unterwäsche und dann Kleidung darüber. Gerne aus dünnen indischen Baumwollstoffen. Überhaupt haben die Inder mit ihrer locker fallenden, leichten und bequemen Kleidung vielleicht die eleganteste Lösung für den Umgang mit Hitze gefunden.

Aber wir Europäer müssen das irgendwie jedes Jahr neu lernen… Hinzu kommt noch eine, nicht rein jahreszeitlich bedingte, weitere Herausforderung: denn je mehr vom Körper zu sehen ist, umso mehr nehmen Menschen Anstoß. Besonders dann, wenn es nicht im Schwimmbad oder am Strand ist. Da waltet mehr Toleranz. Meistens. Aber die Verklemmtheit ist immer mit dabei, die sich bis zur Prüderie auswachsen kann.

Wir alle kennen solche Momente…

Wer als Junge oder Mann je mit einer mehr oder weniger öffentlichen Erektion zu kämpfen hatte – ich erinnere mich an einen bis heute(!) legendäre Situation, als es einen mir bekannten Mann, damals 14 Jahre alt, auf dem Dreimeter-Sprungbrett vor 30 Jahren im Schwimmbad ereilte… Oder als Mädchen oder Frau je mit der angeblich unangemessenen Sichtbarkeit ihrer Nippel zu kämpfen hatte, weiß wovon ich spreche.

Ich glaube, letzteres ist der Grund, warum viele Frauen dann doch im Sommer noch die Extralage BH anziehen. Auch wenn es ihre Brüste sonst nicht bräuchten. Aber eine ausdrucksstarke Brustwarze kann eben die Trägerin und andere mächtig in Verlegenheit bringen und das wollen wir uns gewöhnlich gegenseitig ersparen.

Auf Augenhöhe mit dem Nippel

Zu den Schmuckstücken meines Peinlichkeitskörbchens gehört ein Erlebnis auf einer relativ vornehmen Veranstaltung in Malaysia – ich war damals Mitte 20. Ich weiß nicht mehr, was der Anlass war. Vielleicht die Eröffnung eines Orchideengartens, vielleicht eine karitative Veranstaltung für bedürftige Kinder. In jedem Falle war es ein tropisch heißer Tag und ich trug ein dünnes Baumwollkleid, immerhin aus einem dicht gewebten Stoff und ließ also den unbequemen BH weg. Dazu trug ich schicke Schuhe mit Absatz – mit denen ich dann auf gut 180 cm Körpergröße komme. Am Eingang erwartete uns ein freundlicher Malaie, der ein gutes Stückchen kleiner war als ich und uns alle mit Namensschildern ausstatten sollte. Also schrieb er in schönster Schrift meinen Namen auf einen feinen Papieraufkleber und klebte ihn dann ungefähr dahin, wo bei Männern die Brusttasche des Jackets ist – und zu unser beider Verlegenheit knitterte das dünne Papierchen, der Stoff hatte sich genau an der Stelle in Falten gelegt – weil eben meine linke Brustwarze sich versteift hatte und also super sichtbar wurde. Übrigens nicht nur für uns. Auch einige andere wurden amüsierte Zeugen dessen. Immerhin. Lieber Heiterkeit auslösen, als prüde Mahnungen.

Es gibt kulturelle Unterschiede

Und Prüderie und Scham sind ja ohnehin eine Frage der Kultur. Ein lieber italienischer Freund pflegt auf äußerst unterhaltsame Weise seinen ersten Besuch in einer ostdeutschen Sauna zu schildern. Den absolvierter er in Begleitung seiner damaligen Freundin und deren Mutter. Zu seinem absoluten Entsetzen erfuhr er, dass man natürlich keine Badehose trug. In der Sauna nicht und auch sonst nicht. Alle waren nackt. Die ganze Zeit. Er sagte, er war den ganzen Tag damit beschäftigt, so unauffällig wie möglich, in diesem Entspannungstempel verkrampft seinen beharrlichen Ständer mit einem Handtuch zu kaschieren.

Die Medien schreien sofort „Nippel-Alarm“ oder „Ständer-Skandal“, wenn sich die Brustwarze einer prominenten Frau frech bemerkbar macht, z.B. weil die Kleidung verrutscht oder die Beleuchtung zu harsch ist oder der Penis eines bekannten Mannes sich in einem unpassenden Moment aufrichtet.  Als ob dies eine absichtliche Provokation wäre.

Schön wär’s – denn wenn man das steuern könnte, würden es ja die meisten Menschen eher vermeiden… Gerade weil es ja die allgemeine Aufmerksamkeit plötzlich auf etwas gelenkt wird, was eigentlich intim und persönlich sein sollte und damit bei den Betroffenen Scham und Verlegenheit auslöst. Etwas ist plötzlich nicht so, wie es sein soll – egal, wie groß das Bemühen um Haltung ist. Doch der eigene Körper macht einem einen Strich durch die Selbstdarstellungsrechnung.

Die Biologie ist glücklicherweise stärker als wir

Wir sind natürliche Wesen. Auch wenn wir dies gerne vergessen und meinen, dies beherrschen zu müssen, um als zivilisiert oder gar anständig und vornehm wahrgenommen zu werden. Aber die Biologie macht auch vor Status nicht halt. Das kann der Queen genauso passieren, wie dem Papst. Heute vielleicht nicht mehr – das Alter und ihre öffentliche Position lassen da eine gewisse Gnade walten. Aber sicher hat jeder von ihnen zu seiner Zeit entsprechende Erfahrungen gemacht und dann eben auch gelernt, damit umzugehen…

Dabei sind Ständer und sichtbare Nippel eigentlich sexy!

Übrigens finden Frauen einen Ständer gar nicht so unangenehm – besonders wenn er ihnen gilt. Aber das kommt natürlich auf die Umstände an. Das Spektrum ist breit von provokativem Tabledancing, wo es intendiert ist, über eine Minirockträgerin auf einem Fahrrad – was einen älteren Herrn antörnt bis hin zu einer Frau, die ihren Herzensmann spontan umarmt und auf mehr als einer Ebene begrüßt wird.

Und natürlich sind gerade auffällige Ständer – wegen der dem anhaftenden Peinlichkeit – auch gerne mehr oder weniger gelungenes Gagmaterial in Slapstickfilmen. Unpassend sichtbare weibliche Brustwarzen erfahren nicht ganz das gleiche Spektrum. Sie sind einfach weniger spektakulär. Außerdem scheint es auch in unserer Kultur legitimer zu sein, sich diesbezüglich über Männer lustig zu machen, als über Frauen. Wahrscheinlich weil Männer andererseits sonst mehr Würde erfahren. Das macht die Entwürdigung lustiger… und alles wäre nicht so lustig, wenn die Prüderie nicht immer noch so weit verbreitet wäre.

Aber ist es im Grunde nicht großartig, dass wir zu solchen natürlichen Reaktionen fähig sind? Dass ein Mann sich von etwas – für ihn erregenden – physisch stimuliert fühlt? Wenn eine Frau bei einer zärtlichen Berührung noch so charmant non-verbal reagieren kann?

Unsere Körper sind ehrlich!

Das wunderbare ist doch, dass diese Reaktionen immer echt sind und also absolut ehrlich. Man kann sie kaum vortäuschen. Es entsteht ein Moment besonderer Authentizität und man erlebt das Wunders der menschlichen Biologie. Es ist wie das plötzliche Erröten mit erotischem Augenzwinkern. Eigentlich sollte das unser Leben versüßen und nicht als beschämend oder peinlich gelten: wir sollten mehr feiern, dass auch wir Wesen der Natur sind und unseren Körper deswegen lieben und vielleicht auch die Körper der anderen… In diesem Sinne: uns allen einen charmant-erotischen Sommer!