Sprachbalance

464 460 Elisabeth Karsten

In meinem Bemühen, zur Balance zwischen dem Männlichen und Weiblichen beizutragen, wird mir immer klarer, dass es im Grunde auch einer balancierten Ausdrucksweise bedarf. Das geht einigermaßen gut, wenn es um männlich und weiblich als energetische Qualitäten geht, wie ich es ja bereits beschrieben habe.

Aber sobald sich das auf die Geschlechter bezieht, wie z.B. in meinem vorigen Artikel, in dem ich Männer zum Tragen von Röcken ermutige…und dabei explizit nicht Männer meine, die Lust haben sich als Frau zu verkleiden oder damit zu spielen…wie z.B. Dragqueens. Sondern…“echte Kerle“… wird es schwierig. Denn so manche Dragqueen mag in ihrem normalen männlichen Alltag ein echterer Kerl sein, als so mancher Mann, der im Leben nicht auf die Idee käme sich mit weiblichen Attributen zu zieren und doch vielleicht manchmal weiblicher, oder um ein altmodisches Wort zu benutzen… „weibischer“ wirkt, als ihm bewusst und/oder lieb ist.

Männlich und weiblich ist nicht immer maskulin und feminin

Unter Umständen wirken manche Männer femininer als manche Frauen und manche Frauen maskuliner als manche Männer. Manchmal absichtlich und manchmal unabsichtlich… Und so schnell schleichen sich Klischees und Vorurteile in die Diskussion. Denn bisher ist unser Sprachgebrauch da in der Regel ziemlich undifferenziert. Oder, polemischer formuliert: es ist ein leichtes, sich mit diesbezüglichen Äußerungen im Elektrozaun diverser Befindlichkeiten zu verheddern… Vergleichbar vielleicht mit der Gefahr bei Äußerungen zum Thema Rassismus oder Antisemitismus…

Und also wurde mir klar, dass ich darauf achten muss, nicht das Gegenteil auszulösen, von dem was ich erreichen will. Mir geht es natürlich um mehr Akzeptanz, Toleranz und Mut zum individuellen Ausdruck. Gerade was unseren Umgang mit männlich-weiblich in uns selbst und bei anderen angeht…

Mögliche Metaphern

Offensichtlich ist die Polarität der biologischen Geschlechter weit weniger schwarz-weiß als uns die Konventionen unserer Kultur und entsprechend die Medien bisher vermitteln. Es gibt eben nicht nur „das Männliche“ und „das Weibliche“! Sondern dazwischen ein breites Spektrum an Kombinationen aus beidem, sowohl energetisch als auch physisch. Deswegen hat sich die Gender-Szene wohl auch den Regenbogen als Symbol auserkoren. Er soll die Buntheit des Ausdrucks untermalen… und doch sind wir – so gesehen – am Ende alle reines Licht. Egal, in welcher Schattierung wir uns heimisch fühlen!

Eine liebe „bunte“ Freundin meinte, dass viele Menschen ihrer Bekanntschaft sich von unserem „binären System“ eingeengt fühlen. Aber ich denke, dem liegt vielleicht ein Missverständnis zugrunde. Denn „binär“ heißt ja nicht „entweder-oder“ sondern, dass etwas aus zwei Komponenten zusammengesetzt ist.

In der Informationstechnologie gibt’s den „binären Code“ der besagt, dass alle Informationen durch die Kombination von genau zwei Symbolen, nämlich 1 und 0, codiert werden können…Und auf männlich-weiblich übertragen finde ich das sogar sehr passend. Denn energetisch sind wir alle eine Kombination aus beidem und zwar immer, nur eben in unterschiedlichen Variationen.

Und genau, wie man in unserer dualen Welt hell nicht ohne dunkel oder heiß nicht ohne kalt wahrnehmen kann, ist weiblich ohne männlich kaum zu erfassen.

Ein Spektrum von Polarisierungen

Vielleicht ist das charmanteste Bild eine Art Kontinuum aufgespannt zwischen zwei Polen. Am einen Ende ist „männlich“, am anderen „weiblich“ und doch ist das eine auch immer ein Teil vom anderen… Ich stelle mir das etwa wie ein langgezogenes Yin-Yang-Symbol vor. Und jeder von uns befindet sich irgendwo dazwischen. Je nach Situation und Verfassung manchmal an verschiedenen Punkten und das sogar gleichzeitig… Denn manchmal ist die Positionierung im physischen Außen nicht immer deckungsgleich mit der Positionierung im psychischen Innern. Manche bewegen sich entspannt zwischen den Polen hin- und her. Sie nehmen im Laufe ihres Lebens manchmal sogar unterschiedliche Positionen ein.

Wieder andere finden nicht den ihnen gemäßen Platz in den derzeit angebotenen gesellschaftlichen Nischen. Sie begeben sich mittels einer Geschlechtsumwandlung näher an ihren persönlichen dominanten Pol, um auch äußerlich entsprechend wahrgenommen und behandelt werden zu  können.

Ganz sicher ist es  reizvoll, die einzelnen Positionen mal genauer zu untersuchen und mit einzelnen Vertretern zu sprechen. Denn eine kurze Recherche ergab, dass in der Szene u.a. die Frage, wie man eine Transgenderperson angemessen anspricht und wer auf welche Toilette geht…heiß diskutiert werden.

In diesem Artikel geht es allerdings darum, mir einen gewissen Überblick über die aktuellen Begrifflichkeiten zu verschaffen. Das ist nämlich weit komplexer, als ich anfangs dachte. Ich muss gestehen, dass ich mir zunächst einmal selbst bewusst machen musste, dass es – natürlich – Unterschiede zwischen der sexuellen Orientierung, dem biologischen Geschlechtsursprung und ihrem Ausdruck gibt.

Sexuelle Orientierung

Anders ausgedrückt: es gibt heterosexuelle Frauen und Männer, die sexuell jeweils an Vertretern des anderen Geschlechts interessiert sind. Es gibt homosexuelle Frauen und Männer – bzw. Lesben und Schwule, die sexuell an Vertretern ihres eigenen Geschlechts interessiert sind. Dann gibt es jene, die sich für beide Geschlechter interessieren – die werden meist als bisexuell bezeichnet und jene, die sich für keins von beidem interessieren, als asexuell. Dann gibt es noch pansexuelle – die für Menschen mit allen möglichen geschlechtlichen Identitäten sexuelle bzw. romantische Gefühle empfinden können. D.h. also auch für Menschen in der Mitte des Kontinuums von männlich-weiblich und polysexuell sind jene, die sich zu einigen, aber nicht zwingend zu allen Menschen auf dem Kontinuum angezogen fühlen.

Ursprüngliches biologisches Geschlecht

Aber unsere geschlechtliche Identität wird ja nicht nur von unserer sexuellen Orientierung bestimmt.  Sondern auch und in aller Regel von unseren Genen und unseren Geschlechtsorganen. Menschen mit weiblichen Sexualorganen  sind Frauen, Menschen mit männlichen Männer.

Es gibt jedoch auch Menschen, die werden sowohl mit weiblichen, als auch mit männlichen Geschlechtsmerkmalen geboren, in unterschiedlichen Graden und genetischer Prägung. D.h. sie befinden sich auch physisch im Kontinuum und näher an der Mitte, als jeweils an einem der Pole… Diese Menschen werden im Allgemeinen als „intersexuell“ bezeichnet. Bis vor Kurzem war es noch üblich, dass Kinder, die keine eindeutige physische Geschlechtlichkeit hatten, mittels Operation „angepasst“ wurden. Seit dem 1. November 2013 ist nun gesetzlich festgelegt, dass die Geschlechtlichkeit des Kindes offen bleiben kann – medizinisch und auch legal, etwa auf der Geburtsurkunde.

Inneres Befinden und gewählter Ausdruck

Und dann gibt es jene, die sich mehr oder weniger mit dem jeweils anderen Geschlecht identifizieren. Im Extremfall  ergreifen sie Maßnahmen, auch ihren physischen Geschlechtsausdruck dauerhaft zu verändern. Diese Menschen werden als transsexuell bezeichnet und sie streben stark danach in ihrer – neuen Identität – möglichst ein „normales Leben“ führen zu können.

Aber nicht alle, die sich stark mit ihrem nicht-biologischen Geschlecht identifizieren, haben das Bedürfnis dies dauerhaft zu ändern und darin Normalität zu erleben. Sie wehren sich also gegen den Begriff transsexuell und ziehen Transgender vor. Zu den Transgender Gruppierungen gehören Transvestiten. Transvestiten haben Spaß daran, entweder zum persönlichen Vergnügen und/oder zur Unterhaltung anderer, in die Rolle und Kleidung des anderen Geschlechts zu schlüpfen. Dazu gehören dann auch Dragqueens und – kings…

Für Menschen, die einen androgynen Selbstausdruck wählen – also gleichzeitig männlich und weiblich erscheinen…und Menschen, die deutlich zwischen beiden Polen hin- und her schalten, haben die Amerikaner den Begriff bi-gender gewählt.

So, und um es richtig bunt zu machen, gibt es Transsexuelle, die vielleicht ursprünglich heterosexuell waren…aber aufgrund ihrer Geschlechtsumwandlung jetzt homosexuelle sind und umgekehrt… Im Prinzip gibt es also jede geschlechtliche Disposition in Kombination mit jeder sexuellen Präferenz…

Übrigens hat der deutsche Sexualwissenschaftler Volkmar Sigusch 1991 den Begriff der Zissexualität in die Debatte eingeführt – als Gegensatz zur Transsexualität. Denn laut Sigusch ist das Zusammenfallen von körperlichem Geschlecht und geschlechtlicher Identität eben keine Selbstverständlichkeit.

Zissexuell sind also Menschen, die sich mit dem Geschlechtsausdruck ihres Körpers zweifelsfrei identifizieren. Das sagt aber noch nichts über ihre sexuelle Orientierung aus…

Im Zweifel queer

Im Englischen Sprachgebrauch gibt es eine Art Sammelbegriff, der alle bisher als ungewöhnlich wahrgenommenen Geschlechterrollen und sexuellen Orientierungen umfasst. Menschen, die finden dass das auf sie zutrifft, bezeichnen sich als „queer“ und im englischen Sprachraum ist das auch der Begriff für die gesamte politisch-kulturelle Bewegung, die sich für mehr sexuelle Selbstbestimmung und sexuellen Selbstausdruck engagiert.

Dazu zählen sich auch Menschen, die mit mehreren Menschen gleichzeitig sexuelle und Liebesbeziehungen unterhalten (Polyamorie) und auch Menschen, die BDSM praktizieren – d.h. besondere sexuelle Verhaltensweisen, die u.a. Sado-Masochismus und Fetischismus mit einschließt. Und interessanterweise begegnen sich die verschiedenen Gruppierungen auch mit einem unterschiedlichen Maß an Toleranz… Manche Transgender Menschen lehnen Transsexuelle, die zu operativen Maßnahmen greifen ab; BDSM wird nicht von allen gleichermaßen toleriert und über den Gebrauch der verschiedenen Begrifflichkeiten herrscht auch immer wieder Uneinigkeit…

Wer also irgendwie das Gefühl hat, mit seinem Befinden, seiner Orientierung, seinen Vorlieben und seinen Interessen auf diesen Gebieten von der derzeitigen Norm – also zissexuell, heterosexuell, ohne auffällige Neigungen – abzuweichen, kann sich getrost als „queer“ bezeichnen.

Der Mensch neigt zur Kategorisierung

Schick wäre natürlich, wenn wir überhaupt ohne diese qualifizierenden Begriffe auskämen. Denn die klingen immer so schnell wertend. Aber so lange wir als Gesellschaft zu Weiblichkeit und Männlichkeit im Allgemeinen, sowie im Besonderen kein wirklich entspanntes und erlöstes Verhältnis haben, so lange helfen diese Begriffe sich zu definieren, zu identifizieren und auf andere zu beziehen… Und das ist wohl eins unserer Urbedürfnisse, uns in uns selbst und mit anderen orientieren zu können.

Vielleicht läuft die aktuelle Entwicklung tatsächlich immer weiter darauf hinaus, dass wir lernen uns als Wesen unabhängig von unserem geschlechtlichen Ausdruck wahrzunehmen. Metaphysiker sagen, unsere Seelen sind in Wahrheit androgyn und erst durch die Verkörperung erfährt ein Wesen seine spezifische geschlechtliche Ausprägung – die sich im Übrigen von Inkarnation zu Inkarnation unterscheiden kann. Kurz, wie das einmal eine kluge Freundin von mir für sich auf den Punkt brachte: „Ich liebe eine schöne Seele – die Verpackung ist mir egal!“