Seelen-Selfie: Wut und Demutsgymnastik

1920 1079 Elisabeth Karsten

Ich halte mich für einen emotional relativ ausgeglichenen Menschen. Doch gibt es bei mir derzeit immer wieder Augenblicke, in denen mich eine solche Wut überkommt, dass ich laut aufschreien möchte. Und manchmal tue ich das auch. Alleine in der Natur oder in ein Kissen zuhause… Dann geht´s mir besser. Aber nur für eine kurze Zeit, denn die nächste heiße Wutwelle kommt bestimmt. Ich muss einen anderen Weg finden.

Schwangere mit Maske

Zum Beispiel beim Anblick der hochschwangeren Frau im Bus. Das Wetter ist heiß und der Bus ist voll. Sie hat einen hochroten Kopf und die Schweißperlen rinnen ihr über die Stirn, sie atmet schwer. Trotzdem traut sie sich nicht, die Maske auszuziehen.

Subtile Machtkämpfe

Oder wenn mir liebe Menschen in mildem Tonfall mitteilen, dass sie hoffen, dass ich meine Haltung angesichts der derzeitigen Situation nicht eines Tages werde bereuen müssen… Dabei sehen sie mich beunruhigt an und ich weiß, sie machen sich ehrlich Sorgen um mich. Doch könnten sie, statt meine Einschätzung der Lage in Frage zu stellen, auch ihre eigene mal gütigst unter die Lupe nehmen. Vielleicht sind sie ja diejenigen, die eines Tages die Dinge anders sehen werden? Wer weiß?

Foul play

Oder wenn ich höre, dass Kinder im Schulunterricht keine Maske tragen müssen. Doch dafür müssen dann Türen und Fenster aufbleiben und sie müssen also mit Jacken da sitzen. Es bleibt ihnen dann nur die Wahl zwischen stundenlangem Tragen eines Mantels, vielleicht demnächst noch Mütze und Handschuhe oder eben einer  Maske. Und zu viele Lehrer, die unseren Kindern eigentlich intelligentes Denken und Handeln vermitteln sollten, machen das mit.

Zweideutigkeit

Bei uns in Deutschland werden die derzeit, gegen die Regierung und deren Medien, rebellierenden Bürger öffentlich häufig als „Covidioten“ bezeichnet.  Außerdem werden einzelne zumeist friedliche Demonstranten brutal von unserer Polizei misshandelt. Doch gleichzeitig werden die Bürger von Belarus für ihren Mut und ihre Einsatzbereitschaft, sich gegen ihre unmenschliche Diktatur zu wehren, gelobt.

Kein Grau mehr, sondern nur noch schwarz und weiß

Wer die Gefährlichkeit des Virus in Frage stellt, ist sofort ein Verschwörungstheoretiker und also nicht mehr ernst zu nehmen. Wer auf Demos geht, wird in einen Topf mit Rechtsradikalen geworfen. Wer keine Maske trägt, ist ein „Maskenmuffel“ und hat nicht etwa gute persönliche gesundheitliche Gründe dafür.  Diese Pauschalkategorisierung von Menschen wird gerade jetzt besonders häufig in den Medien praktiziert. Aber natürlich auch von Einzelpersonen.

Die Antwort liegt in der Luft

Statt dann nur laut zu schreien und mit meinen Fäusten gegen den wachsenden Wahnsinn an zu trommeln, hole ich jetzt abgrundtief Luft. Während ich kraftvoll ausatme, erhebe ich mich über die brodelnde Masse. Dann klettere ich langsam aus dem heißen Kessel meines kochenden Egos wieder empor. Dabei schnaube und fluche ich leise vor mich hin. Denn wie alle Egos ist natürlich auch meines davon überzeugt, selbstverständlich die einzig richtige Sichtweise nicht nur zu kennen, sondern auch zu beherrschen!

Wenn ich dann schließlich mit frischem Sauerstoff und bei aufgeklarter Sicht auf dem Gipfel meiner Herzintelligenz angekommen bin, halte ich erst mal inne. Schließlich vergebe ich mir dafür, mal wieder aus dem mir so heiligen inneren Gleichgewicht geraten zu sein…

Die Wut ist allein meine

Dann erinnere ich mich selbst daran, dass es MEINE WUT ist, die getriggert wurde und dass die Verantwortung dafür NUR bei MIR liegt. Nicht bei den Umständen oder der Person, die sie auslösen. Und dass das Hauptgefühl hinter der Wut diese schiere Ohnmacht ist! Weil ich keine Ahnung habe, wie wir Menschen je zu einem gesunden Miteinander finden werden, wenn wir so unterschiedlich denken und fühlen.

In meiner Wut versteckt sich die Angst, dass ich auf Gedeih und Verderb diesen Menschen ausgeliefert bin. Sie stellen die Wahrheit, wie ich sie nun mal wahrnehme und fühle, in Abrede, nur weil sie ihnen nicht in den Kram passt. Und natürlich passen mir ihre Wahrnehmung und ihr Empfinden auch nicht in den Kram. Eben weil es meine Vision von einem friedvollen Miteinander schwerstens zu bedrohen scheint. Aber damit mache ich mich zum Opfer einer Vorstellung. Die Wirklichkeit ist eine andere und es gibt sehr wohl einen Weg. Aber vor lauter Wut vergesse ich den.

Wozu ist das alles gut?

Und dann immer diese absurde Frage, die ich mir dabei stelle: WARUM muss das so sein? Haben wir als Menschheit wirklich nichts Besseres zu tun, als uns mit unseren Egos gegenseitig das Leben so schwer zu machen? Wir wollen doch im Grunde alle eine bessere Welt? Eine, in der Liebe und Vertrauen die herrschenden Prinzipien sind und nicht Angst und Macht. Wo man sich auf Wissenschaft und Medien einigermaßen verlassen kann! Wo Menschen sich für ihr gegenseitiges Wohlergehen engagieren und nicht nur für irgendeine mehr oder weniger verborgenen Agenda ihrer Finanziers. Und wo überhaupt der Mensch viel wichtiger ist als Geld, Besitz und Macht.

Es ist ein Werdungsprozess

Allmählich begreife ich: diese aktuelle Situation ist genau DER WEG hin zu dieser neuen Welt! Teil dieses Weges ist, dass auf so vielen Ebenen Konflikte aufplatzen. Ungute und schmerzhafte Dinge, die verändert werden müssen, treten endlich zu Tage. Und selbst nahestehende Menschen verkrachen sich angesichts ihres Umgangs mit der Situation miteinander. Doch sind sie endlich ehrlich und authentisch. Und offenbar lernen wir nur so das, was wir uns jetzt gerade alle so wünschen: einen erwachsenen, bewussten Umgang miteinander. Der Unterricht findet jetzt gerade statt. Jeden Tag, rund um die Uhr!

Meinung und Tatsache unterscheiden

Zum erwachsen werden gehört dazu, unterscheiden zu können zwischen Meinung und Tatsache. Das gilt sowohl für den eigenen Ausdruck, als auch für die Wahrnehmung dessen, was andere mitteilen. „Angela Merkel ist eine deutsche Spitzenpolitikerin.“ ist eine Tatsache. „Angela Merkel ist spitze.“ ist eine Meinung.

Haltung und Mensch unterscheiden

Sowie zu begreifen, dass es ok ist, Haltungen in Frage zu stellen. Dass es aber nicht ok ist, deswegen gleich den ganzen Menschen in Frage zu stellen. Es ist völlig ok, kein Fan von Präsident Trump zu sein. Es ist nicht ok, alle Menschen, die Trump befürworten, grundsätzlich zu verurteilen.

Nicht spekulieren, sondern selbst recherchieren

Es ist so leicht aufgrund irgendwelcher Erzählungen oder Schlagzeilen Vermutungen anzustellen. Doch dieser Tage ist es äußerst lohnend, sich die Zeit zu nehmen und selbst zu erkunden worin all dies wurzelt. Jeden Tag aufs Neue gilt es die eigenen Vorurteile gründlich zu überprüfen… Wir sind alle derart konditioniert und merken erst langsam, das vieles von dem, was man uns gelehrt hat einfach nicht stimmt.

Die Wahrheit ist nicht von demjenigen abhängig, der sie äußert

Es ist auch wichtig anzuerkennen,  dass Menschen und Gruppen, die man nicht mag dennoch einen konstruktiven Beitrag zum großen Ganzen leisten können. Eine Wahrheit wird nicht zur Lüge, nur weil sie von einem Rechtsradikalen geäußert wird. Genauso wenig wird eine Lüge zur Wahrheit, nur weil sie jemand sagt, den man wertschätzt.

In Wirklichkeit kennen wir alle den guten Weg

„Füge keinem andern zu, was du nicht willst, was man dir tu´“ ist schon immer ein menschlicher Grundsatz gewesen. Wenn wir  diese berühmte, „goldene Regel“ wirklich beherzigen, dann haben wir sehr wohl eine Chance, eine friedvolle und angstfreie Welt für alle zu erschaffen. Wir sollten immer danach handeln und natürlich bewusst damit umgehen… Indem uns beispielsweise Sadomasochisten über ihre Lust am Schmerz rechtzeitig in Kenntnis setzen… Doch wenn wir grundsätzlich andere so behandeln, wie wir selbst behandelt werden möchten – jenseits von allen möglichen Bestimmungen, Konventionen und Regelwerken, dann könnte es gelingen! Da bin ich sicher!

Das fängt natürlich bei mir selbst an. Also akzeptiere ich, dass hinter der Wut und dem unangenehmen Urteil anderer mir gegenüber auch ihre Ängste stecken. Das heißt in Wirklichkeit verbindet uns mehr als uns trennt. Damit sind wir wieder gleichauf und haben einen möglichen gemeinsamen Ausgangspunkt: was für eine Welt brauchen wir, damit alle wirklich angstfrei leben können? Die Antwort darauf finden wir nur gemeinsam.

Humor, Geduld und Mitgefühl sind unerlässlich

All das bringe ich gerade meinem lieben Ego bei. Es ist manchmal noch ein bisschen bockig und langsam, doch nur so kann ich es zähmen… Mein Ego und ich haben jetzt auch entschieden, vor einem potentiellen Absturz in seine heißen Untiefen die Humorschwimmbrille aufzusetzen. Außerdem werden wir grundsätzlich einen temperaturbeständigen Neoprenanzug aus Geduld und Mitgefühl  tragen. Schließlich werden wir uns in Demut dem Prozess, durch den wir gerade alle durchmüssen, hingeben. Das macht das Erwachsenwerden leichter. Und die Aussicht auf ein wohlwollendes Miteinander motiviert enorm!