Die amerikanische Sozialforscherin Brené Brown ist seit 2010 mit ihren phantastischen Tedx-Talks über Verletzlichkeit einer breiten Öffentlichkeit bekannt. Sie hat außerdem einige Bücher geschrieben. Ich lese gerade das amerikanische Original ihres Buchs: „Verletzlichkeit macht stark. Wie wir unsere Schutzmechanismen aufgeben und innerlich reich werden“. Im Buch geht es vor allem um unseren Umgang mit Scham.
Bestandsaufnahme der Scham
Ich bin sowohl von ihrem Schreibstil, als auch von dem äußerst erkenntnisreichen Inhalt begeistert. Im dritten Kapitel des Buches geht es um die Erscheinungsformen von Scham bzw. die „Schamdämonen“, und wie man ihnen konstruktiv begegnen kann.
In diesem Kapitel beschreibt sie auch, wie schockiert sie war, feststellen zu müssen, dass Frauen mit Scham und Verletzlichkeit nicht mehr kämpfen, als Männer. Männer leiden genauso und erfahren ihren diesbezüglichen Schmerz ähnlich, wenn auch aus anderen Gründen aufgrund unserer gesellschaftlich geprägten Rollenbilder. Nach einem einer ihrer Vorträge hatte Brown ein Schlüsselerlebnis.
Ein Familienvater bedankte sich bei ihr und fragte, wie sie die Scham von Männern einschätze. Sie erklärte damals wahrheitsgemäß, dass sie das nicht wüsste, weil sie nur Frauen interviewt habe. Der Herr nickte nur und sagte: „Nun! Wie bequem!“ Angespannt fragte sie: „Warum bequem?“ Und er entgegnete, ob sie es wirklich wissen wollte. Sie sagte zögerlich ja und ihm kamen die Tränen. Dann sagte er: „Wir schämen uns. Tief. Aber wenn wir versuchen, uns damit mitzuteilen – dann werden wir emotional zur Schnecke gemacht… Meine Frau und Töchter, für die Sie all die Bücher signiert haben…würden mich lieber auf meinem weißen Pferd sterben sehen, als mir zusehen zu müssen, wie ich herunter falle. Ihr sagt, dass Ihr wollt, dass wir verletzlich und authentisch sind, aber seid ehrlich: Ihr könnt es nicht aushalten. Es macht euch krank, uns so zu sehen.“
Frauen und Männer leiden unter Scham – aus unterschiedlichen Gründen
Seit der Begegnung begann Brown auch Männer zu interviewen. Sie kam zu der Feststellung, dass wenn wir einen Ausweg aus der Scham, Verletzlichkeit und dem sich bloß gestellt fühlen finden wollen, dann nur gemeinsam. Frauen und Männer zusammen. Dann schildert sie was sie beobachtet hat, wie wir einander verletzen und dass wir gegenseitiger Heilung bedürfen. Sie schreibt: „Die Erwartungen, die die Scham bedingen, entsprechen den gesellschaftlichen Geschlechterrollen, aber die Erfahrung des Schamgefühls ist universell und zutiefst menschlich.“
Schamauslöser für Frauen
Für Frauen ermittelte sie folgenden Schamkatalog:
- „Perfekt aussehen. Perfekt handeln. Perfekt sein. Weniger als perfekt sein ist beschämend.
- Von anderen Müttern verurteilt zu werden.
- Bloß gestellt zu werden – die peinlichen Teile des eigenen Wesens, die man vor anderen verbergen möchte, werden für alle sichtbar gemacht.
- Egal, was ich erreicht habe oder wie weit ich gekommen bin, woher ich kam oder was ich überlebt habe – sie [die Scham] wird mich immer daran hindern, fühlen zu können, dass ich gut genug bin.
- Auch wenn alle genau wissen, dass es keine Möglichkeit gibt, alles hinzukriegen, erwartet es doch jeder.
- Scham bedeutet, wenn es einem nicht gelingt, den Eindruck zu vermitteln, als hätte man alles unter Kontrolle.
- Nie genug zu sein – zuhause, auf der Arbeit, im Bett. Nie genug für die Eltern. Scham heißt: nie genug!
- Kein Platz am Tisch der „coolen kids“ – die hübschen Mädchen lachen einen aus.“
Ich denke, dass dies generell auch für deutsche Frauen und überhaupt die Frauen der westlichen Welt zutrifft. Lakonisch stellt Brown fest, dass nach all den Jahren der Bewusstseinsentwicklung in Bezug auf die Geschlechterrollen und Emanzipation der Hauptschamauslöser für Frauen noch immer auf ihrem Erscheinungsbild beruht.
Die Scham darüber, nicht dünn, jung und schön genug zu sein… Ein weiteres wichtiges Thema ist für die Amerikanerinnen das Thema Mutterschaft: wenn man Kinder hat, muss man sich ständig mit anderen Müttern vergleichen (lassen) und die eigenen Kinder mit denen der anderen. Wenn man keine hat, ist man eine minderwertige Frau…
In Deutschland ist es wohl etwas anders
Als kinderloser Single kann ich diese letztere Erfahrung nicht bestätigen. Tatsächlich habe ich im Kontakt mit Amerikanern festgestellt, dass sie oft verblüfft sind, wenn sie mit Deutschen Kontakt haben, dass bei uns der Beziehungsstatus und die Familiensituation für den Selbstwert offenbar nicht so relevant sind, wie es einem in den USA suggeriert wird.
Ich habe keine Daten, aber ich kann mir gut vorstellen, dass wir im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung mehr unverheiratete Paare und lose Patchworkfamilien haben, als die USA. Trotzdem ist es natürlich so, dass es auch bei uns Situationen gibt, in denen Partnerlosigkeit (gerade bei allein erziehenden Müttern) und Kinderlosigkeit (besonders bei jenen, die gerne welche gehabt hätten) Schmerz und Scham auslösen. Die Scham darüber…irgendwie versagt zu haben, also nicht genug zu sein. Was Brown zusammenfassend über die Amerikanerinnen sagt, gilt wahrscheinlich überhaupt für die Frauen in der westlichen Welt: nämlich dass viele Frauen sich in einem höchst gespannten Netz aus Widersprüchen bewegen müssen.
Ein Netz von Widersprüchen reibt die Frauen auf
- Sei perfekt, aber mache kein Aufhebens darum und nichts darf darunter leiden, dass du deine Perfektion erreichst: weder die Familie, noch dein Partner, noch deine Arbeit.Wenn du wirklich gut bist, sollte dir die Perfektion leicht fallen.
- Kränke niemanden und verletze niemandes Gefühle – aber sage, was du denkst.
- Dreh auf in Sachen Sex (nach dem die Kinder im Bett sind, der Hund ausgeführt und das Haus sauber ist) aber ja nicht bei den Elternabenden. Und verwechsele beides um Himmels willen nie – du weißt doch, wie wir über die Sexualität in den Medien denken!
- Sei ganz einfach du selbst, aber nicht, wenn das bedeutet schüchtern oder unsicher zu sein. Es gibt nichts, was sexier ist, als Selbstvertrauen (besonders wenn du jung und rattenscharf bist)
- Bringe Menschen nicht in Verlegenheit, aber sei ehrlich.
- Sei nicht zu emotional, aber auch nicht zu abgeklärt. Zu emotional und du bist hysterisch, zu abgeklärt und du bist ein kaltherziges Biest.
Für deutsche Frauen könnte man vielleicht ergänzend und zusammenfassend hinzufügen: „Gib dein bestes, aber sei pflegeleicht.“
Schamauslöser für Männer
Auf die Frage, wie Männer Scham definieren, erhielt die Autorin folgende Antworten:
- Scham ist Versagen. Auf der Arbeit. Auf dem Sportplatz. In deiner Ehe. Im Bett. Beim Geld. Bei den Kindern. Es spielt keine Rolle. Scham ist Versagen.
- Scham bedeutet, verkehrt zu sein. Nicht, es verkehrt zu machen, sondern verkehrt zu sein.
- Scham ist ein das Gefühl, unzulänglich zu sein.
- Scham passiert, wenn Menschen denken, dass du weich bist. Es ist erniedrigend, als irgendwas anderes als wahrgenommen zu werden, als taff!
- Jegliche Art von Schwäche zu zeigen ist beschämend. Im Grunde ist Scham Schwäche.
- Angst zu zeigen, ist beschämend. Man kann keine Angst zeigen. Du darfst keine Angst haben, egal was ist.
- Scham bedeutet als derjenige gesehen zu werden, den man an die Wand drücken kann.
- Unsere größte Angst ist kritisiert oder lächerlich gemacht zu werden – beides ist extrem beschämend.
Laut Brené Brown leben Männer mit dem großen Druck einer unbarmherzigen Botschaft: Werde ja nicht als schwach wahrgenommen!“
Ergänzend und zusammenfassend könnte man für deutsche Männer vielleicht hinzufügen: „Weiche nix aus, aber sei immer stark.“
Sie muss schön sein, er muss stark sein
Das heißt, für Frauen geht es bei der Scham vor allem um ihre Erscheinung, bei Männern vor allem um ihre Darbietung. Wehe, diese entsprechen nicht der gesellschaftlichen Norm und/oder familiären und schulischen Erwartungen – das kann traumatische Folgen haben. Begabungen und Träume werden nicht gelebt, weil die Ablehnung derjenigen, deren Anerkennung lebensnotwendig scheint zu sehr gefürchtet wird. Und in jedem Falle hat die Wahrheit des Wesens unter diesen Bedingungen keine Chance. Viele ziehen die Selbstverleugnung dem möglichen Verlust von Zugehörigkeit und potentiellem Liebesentzug vor. Bei Frauen ist eine der Folgen vor der Angst nicht (mehr) attraktiv genug zu sein – gerade für den Mann, den sie am meisten lieben, dass sie unendlich viel Geld und Zeit in Kosmetika, Diäten und Klamotten investieren. Im Extremfall kann das u.a. in Essstörungen enden.
Für Männer ist einer der Folgen vor der Angst zu unerträglich schwach zu erscheinen – gerade in den Augen der Frau, die sie am meisten lieben und deren Schmerz angesichts ihrer Schwäche sie nicht aushalten können, verschließen sich irgendwann ihren Gefühlen – sie verbieten sich selbst regelrecht ängstlich oder verletzlich zu sein – nach dem berühmten Motto: „Ein Indianer kennt keinen Schmerz.“
„Ein Mann weint nicht…“
Meist gibt es dazu ein Schlüsselerlebnis während der Pubertät und an die Stelle der unterdrückten Gefühle der Schwäche tritt dann die Wut darüber, diese Gefühle unterdrücken zu müssen – und wie viele Männer kämpfen mit ihren bewussten und unterbewussten Aggressionen?
Ein ganz besonders schambehaftetes Gebiet für beide Geschlechter liegt natürlich in der sexuellen Begegnung. Männer haben oft das Gefühl, für den anderen nicht „gut genug zu sein“ – und wollen einfach nur bedingungslos angenommen werden. Frauen fürchten dagegen, nicht schön genug zu sein – und wollen doch nur bedingungslos angenommen werden… Letztlich geht es um die Angst, der Liebe des anderen nicht würdig zu sein. Offenbar geht es um die Angst, um dessentwillen abgelehnt zu werden – was man bei sich selbst als größten Makel empfindet. In einer gesunden Intimität ist für alle Ängste und die Anerkennung derselben immer Raum und kann die Verbindung und Intimität sogar noch verstärken. Aber dazu muss man diese erst einmal entwickeln.
Wege aus der Scham
Browns gesamtes Buch widmet den verschiedenen Bereichen der Scham und den verschiedenen Strategien im Umgang damit und das sehr konkret. Wer mehr und genaueres dazu wissen will, dem kann ich die Lektüre nur wärmstens empfehlen. An dieser Stelle beschränke ich mich auf einen eher allgemeinen Ansatz im konstruktiven Umgang mit Scham und Verletzlichkeit.
Natürlich ist eine der Hauptwurzeln von Scham, bei Frauen, wie bei Männern, ein mangelndes Selbstwertgefühl. Es geht also einerseits darum, selbst einen gesunden Selbstwert zu entwickeln und das kann man ein Stück weit üben. Sich beispielsweise nicht ständig mit anderen zu vergleichen. Und wenn, sich klar zu machen, dass die anderen im Zweifel mit ähnlichen Unsicherheiten kämpfen, auch wenn sie anders wirken… Hilfreich ist auch, sich klar zu machen, dass es letztlich keinem dienlich ist, wenn man um ihretwillen leidet. Denn dieses Leid, dieser Schmerz ist auf Dauer zäher und qualvoller als die mögliche Scham über die wahrhafte Offenbarung der eigenen Verfassung. In der Regel erlaubt das Bekenntnis zur Wahrheit sogar allen Beteiligten mehr Authentizität und damit echte Liebe, statt irgendeinem merkwürdigen Rollenspiel, was man sowieso nie richtig beherrschen kann und einen letztlich zermürbt.
Andererseits ist sehr wichtig, andere und besonders jene, die man liebt, gerade dann zu würdigen, wenn sie sich verletzlich zeigen und gerade mit ihrer eigenen Selbstliebe hadern. Auch wenn es einen massiv verunsichert – der beste Weg ist dann, das direkt zu thematisieren.
Ehrlich über die eigene Scham reden
Das ist wahrscheinlich überhaupt der Schlüssel, miteinander – so ehrlich wie möglich – über diese Schamdämonen zu reden… Dann verlieren sie langsam ihre schreckliche Erscheinung und können verschwinden langfristig sogar. Beispielsweise aufgrund der Tatsache, dass fast allen Menschen diese Erfahrung auch kennen und es also etwas ist, was uns in Wahrheit eint und nicht trennt…
Und natürlich hilft es, weder sich noch die anderen allzu ernst zu nehmen und grundsätzlich darauf zu vertrauen, dass der Mut zur Wahrheit, viel Humor und unendlich viel Liebe immer ein guter Ansatz sind.
Anmerkung: Während ich diesen Blogeintrag schrieb, hatte ich die deutsche Übersetzung des Buchs nicht zur Hand und also sind alle Zitate meine eigene Übersetzung und werden also entsprechend von der offiziellen deutschen Übersetzung abweichen.