Reale Märchen

1889 1942 Elisabeth Karsten

Bis heute haben märchenhafte Archetypen, wie König und Königin oder Prinz und Prinzessin ihren Zauber nicht eingebüßt und schon gar nicht, wenn sie aus Fleisch und Blut und ganz real sind.

Am 13. Juni dieses Jahres gab es mal wieder eine königliche Hochzeit und ich war erstaunt, wer alles in meinem Umfeld sich bemüßigt fühlte, dies zu kommentieren. Denn im Allgemeinen wird es in meinem Freundeskreis eher verpönt, sich für die Schicksale jener zu interessieren, die nur aufgrund ihrer Geburt und ihres Status prominent sind. Das ist doch eher etwas für kitschfreudige Omis und glamourgeile Friseurkundinnen…

Die geheime Macht der Archetypen

Die Kommentare waren übrigens weder zynisch-negativ noch schwärmerisch-positiv. Der Grundtenor war, dass mal wieder ein sympathischer junger Mensch offenbar eine Frau geheiratet hat, die er wirklich liebt. In diesem Fall Carl-Phillip, Prinz von Schweden, der kleine Bruder von Kronprinzessin Victoria.

Doch bei aller Nüchternheit der Betrachtung spielt natürlich der „Märchenfaktor“ in die Sache rein. Von jeher haben hochadlige Menschen sich eines prominenten Status erfreut und beschäftigten die Gemüter der Menschen. Mindestens unterbewusst gelten die relativ wenigen Aristokraten unserer Gesellschaft als etwas besonderes.

Was diesen Bräutigam und seine spektakuläre Hochzeit so medienwürdig macht, ist also allein die Tatsache, dass er ein echter Prinz ist,. Er hat einen wirklichen König zum Vater und natürlich lauter Titel, Orden, und eine schicke Uniform. Obendrein ist er auch noch ein wirklich attraktiver Mann und auch seine Braut. Sie ist ein ehemaliges Model, mit Businessabschluß und Yoga-Ausbildung. Sie ist natürlich auch im Brautkleid sehr ansehnlich und wirkt sympathisch.

Die Krone bringt die Projektionsfläche mit sich

In unserer westlichen Welt sind die Zeiten vorbei, in denen gekrönte Häupter die Geschicke ihrer Untertanen regieren. Doch sind sie noch immer so etwas wie Ikonen der nationalen Identität. Das macht sie zur willigen Projektionsfläche für alle möglichen Filme. Vom Märchen bis zu anti-royalistischen Politthrillern… Das Leben der adligen Prominenz lenkt ab, unterhält und vereint Menschen unterschiedlichster Hintergründe in bunten Diskussionen.

Und doch sind sie meiner Ansicht mehr, als nur nationaler Luxus. (Es ist ein beständiges Argument der Anti-Royalisten, dass der aufwendige Lebensstil auf Staatskosten stattfindet.) Außerdem sind sie beständige Protagonisten der Regenbogenpresse. Hochadlig zu sein ist in der Regel eine lebenslange Angelegenheit…

Die mythologische Dimension bleibt ewig aktiv

Allein durch ihren Status, als König oder Prinzessin, als Fürst oder Gräfin vertreten sie die gleichnamigen Archetypen. Auch deswegen kommen sie so häufig in alten Märchen und Legenden vor. Sie gehören auch oft zum Figurenkanon in zeitgenössischen Fantasy-Computerspielen. Fast jeder weiß von klein-auf, was ein König bedeutet!

Das wirft die spannende Frage auf, ob das Märchenhafte, Archetypische immer den Beigeschmack von etwas historischem, einstmaligen haben muss? Wie drückt sich das Märchenhafte in der Gegenwart aus? Welche Form findet das Archetypische in unserer Kultur?

Ich glaube, dass einige unserer hochkarätigen Aristokraten eine sinnvolle Vorbildfunktion haben – in dem sie sich auch oft für würdige Dinge engagieren, die ohne ihren Einsatz weit weniger Aufmerksamkeit und Unterstützung erführen. Aber das leisten andere – mehr oder weniger populäre – Prominente auch… Also, was ist heutzutage das Besondere an jemandem, der dazu befugt ist, mit „Königliche Hoheit“ angesprochen zu werden?

Eine neue Bedeutung für einen alten Topos

Beispielsweise präsentiert sich der englische Thronfolger Prinz Charles glaubwürdig als Förderer der Umwelt, u.a. indem er auf seinen Gütern ökologischen Landbau betreiben lässt. Damit gibt er der Klischeerolle des weltfremden Aristokraten als Nutznießer, wenn nicht gar als Ausbeuter seiner Ländereien einen positiven Rollenwandel hin zum bewussten Beschützer. Die Missachtung für die traditionellen spanischen höfischen Hofsportarten wie die Jagd und den Stierkampf wird offen von König Felipe IV. von Spanien zum Ausdruck gebracht.

Aber am eindrucksvollsten hat für mich Prinzessin Victoria von Schweden mit dem alten Rollenbild der Prinzessin aufgeräumt. Ihretwegen wurde in Schweden die traditionelle Erbfolge geändert. Die erlaubte bis dato nur männliche Thronfolger. Jetzt gilt das Recht des   oder der Erstgeborenen. Außerdem sie hat auch das Aschenputtelprinzip modernisiert.

Die Regenbogenpresse hatte ihre ganze Jugend lang spekuliert, wer denn einstmals ihr Prinzgemahl würde. Und allen möglichen jungen Männern aus dem europäischen Hochadel wurden diesbezüglich öffentlich Chancen ausgerechnet. Doch Victoria verblüffte ihre Familie und Adelsexperten aller Länder mit ihrer Partnerwahl.

Es ist nicht nur ein bürgerlicher Mann, sondern auch noch ihr Fitnesstrainer…! Ein hochrangiges Mitglied der Streitkräfte oder gar ein hochdotierter Akademiker oder vielleicht sogar ein Spitzensportler wären noch akzeptabler gewesen… Aber ein ganz gewöhnlicher, leicht prolliger Fitnesstrainer an der Seite einer künftigen Königin? Der Statusunterschied war wohl zunächst für alle eine große Herausforderung. Nur nicht für das liebende Paar.

Der Ehemann einer Königin ist nicht automatisch ein König

Dabei haben es die Männer von Königinnen gar nicht so leicht denn sie sind nicht ohne weiteres König. Wohingegen die angeheirateten Frauen immer auch den Königstitel kriegen, auch wenn sie nicht adliger Herkunft sind, wie z.B. Königin Sylvia von Schweden oder Königin Maxima der Niederlande.

Außerdem wurden die Prinzgemahle des europäischen Hochadels bisher auch oft kritisch wahrgenommen. Sie haben oft – mal mehr, mal weniger öffentlich – durchaus mit ihrer Rolle als royaler Samenspender und öffentlichem Beta-Tier gehadert. Prinz Claus der Niederlande, der inzwischen verstorbene Ehemann der inzwischen abgedankten Königin Beatrix, war vor seiner Eheschließung ein geachteter deutscher Diplomat. Nunn durfte er plötzlich nur noch alles mögliche ehrenhalber tun und sein. Es war öffentlich bekannt, dass er auch deswegen unter Depressionen litt.

Prinz Philip, der diesen Titel erst zehn Jahre nach seiner Eheschließung von seiner Frau Königin Elisabeth II von England verliehen bekam und vorher vornehmlich als Duke von Edinburgh bezeichnet wurde, gilt als verschroben und taktlos. Er ist übrigens demnächst Rekordhalter ausgerechent in seiner Eigenschaft als Prinzgemahl. Denn die Dauer der Regentschaft seiner Frau (über 60 Jahre) währt bald länger als die ihrer Großmutter, Königin Victoria.

Doch auf einem Fleckchen Erde wird er von etwa 400 Menschen eines melanischen Stammes über den Status seiner Frau erhoben: von ihnen wird er als Gottheit verehrt. Die Bewohnern des Dorfes Yaohnanen auf der zum melanesischen Vanuatu gehörenden Insel Tanna betrachten ihn als Verkörperung eines ihnen heiligen Naturgeistes.

Herz über Amt

Also – für welchen Mann ist die Aussicht auf eine Rolle in der zweiten Reihe schon wirklich auf Dauer attraktiv? Aber deswegen als Frau Kompromisse machen? Kronprinzessin Victoria war offenbar immun gegen die sicherlich vielen Bemühungen, die ihr verdeutlichen sollten, dass sie als öffentliche Person nicht einfach ihrem Herzen folgen könne. Sie müsse natürlich Rücksicht auf ihren Status, ihre Geschichte und  ihre edlen Gene nehmen. Ganz zu schweigen von der gesamten Verwandtschaft. So zumindest stelle ich mir das vor… Denn auch ich entnehme mein Wissen in diesen Dingen ausschließlich den Medien.

Aber Prinzessin Victoria blieb sich und ihrer Liebe treu. Den Bildern und Berichten in den Medien zufolge liebt Daniel auch ehrlich sie. Er musste sich für sie und ihre gemeinsame Zukunft allen möglichen Prozeduren aussetzen. Laut der schwedischen Presse unterzog er sich zahlreichen Weiterbildungen und einer PR-Beratung, um würdig und angemessen nehmen Victoria auftreten zu können. Er musste u.a. seinen Job als Fitnesstrainer aufgeben, änderte seinen Kleidungsstil, bekam eine Intellektuellenbrille verpasst und paukte Englisch. Über acht Jahre dauerte es, bis sich Victoria mit ihrer Partnerwahl in der Familie und schließlich auch in der Öffentlichkeit durchgesetzt hatte. Seit dem gewinnt Daniel als ihr Ehemann und Vater ihrer Tochter stetig an Popularität und die ihre hat nie gelitten.

Aschenputtlerix gewinnt in der patriarchalen Welt

Wenn man es also wagt, das Sortieren von Erbsen und Linsen durch Gymnastik und Liegestützen zu ersetzen, dann ist Prinz Daniel eine Art moderner Aschenputtlerix… Der Prinzgemahl stammt aus vergleichsweise einfachen Verhältnissen. Er wuchs in einem 6000 Seelenkaff als Sohn des Leiters der kommunalen Sozialbehörde und einer Postangestellten auf. Dank seiner Liebe zur schwedischen Kronprinzessin kann er sich jetzt wohl locker seinen eigenen Personaltrainer leisten, wenn ihm danach der Sinn stände…

Auch ich habe 2010 die Fernsehberichte seiner Eheschließung mit Victoria verfolgt. Neben dem Spaß an der üppigen Inszenierung – eine Hochzeit mit so vielen Gästen in so märchenhaften Roben ist halt immer spektakulär, hat mich vor allem berührt und fasziniert, wie ich die beiden wahrgenommen habe. Sie erschienen mir wirklich glücklich miteinander und selig darüber, alle bisherigen Hürden bis zu diesem grandiosen Moment genommen zu haben und zwar gemeinsam.

Das hat mich am Ende mehr beeindruckt, als aller Prunk und Glamour. Für mich ist Prinzessin Victoria schon jetzt eine Königin in Sachen Selbstliebe, Authentizität und Durchhaltevermögen. Ganz unabhängig von ihren Kronen, die sie zurecht tragen darf – echt souverän, oder cool, wie man stattdessen heute wohl sagt…