Immer wieder fasziniert mich die Unterschiedlichkeit von Menschen wenn es um die Wahrnehmung geht. In diesem Fall konkret ums Augenmaß. Tendenziell ist es so, dass Menschen eher zu viel Raum, als zu wenig Raum anberaumen (sic!)…
Mit anderen Worten: der übrig gebliebene Essensrest wandert in eine Schüssel, in die locker die doppelte Menge passen würde. Ein Kofferraum, der gepackt werden soll, wird als zu klein fürs Gepäck wahrgenommen und doch passt am Ende alles rein und noch ein bißchen mehr…
Räumliche Wahrnehmung unterscheidet sich auch bei Männern und Frauen
Auffällig ist auch, dass die Maß- bzw. Größenwahrnehmung bei Männern und Frauen oft sehr unterschiedlich ist. Meine Qi Gong Lehrerin berichtet, dass wann immer sie ihre Kursmitglieder auffordert, sich schulterbreit hinzustellen, Männer meistens die Beine zu weit auseinander stellen und die Frauen zu eng…
Doch die Verschiebung geht über die rein physische Wahrnehmung hinaus. Es geschieht auch in psychischer Hinsicht. Die ist offenbar nicht nur charakterspezifisch, sondern auch geschlechterspezifisch. Männer neigen im Allgemeinen zur Aufwertung ihres Tuns und Frauen zu Abwertung. (Was natürlich auch wieder den bereits erwähnten Basisdynamiken in meinen Artikeln zu Narzissmus und Scham entspricht)
Treffende Illustration
Es gibt da einen wunderbaren Comic vom phantastischen Walter Moers in seinem Buch Huhu:
Ein kleiner Junge und ein kleines Mädchen spielen im Sand. Wir sehen immer nur ihn bauen. Sie ist auch mit im Bild, aber nicht das, woran sie baut. Derweil doziert er Bild für Bild darüber, dass Männer bleibende kulturelle Werte schaffen, während Frauen dazu verurteilt sind, aufgrund der Biologie ihre schöpferischen Energien in Schwangerschaft und Geburt zu stecken. Da Männer dieser Kanal fehlt, bleibt ihnen nichts anderes, als weltbewegende Leistungen zu erringen… Und bezeichnenderweise gibt es kaum Künstlerinnen von Weltrang. Nach dem Motto: Ausnahmen bestätigen die Regel. Es mündet in seinem Diktum: „Ihr macht die Kinder, wir die Kunst!“ Er leitet dann über zu seiner Frage: „Apropos, wie findest du meine Sandburg?“ Und sie bewundert seinen kindlichen Sandhaufen mit den Worten: „Oh, toll!“ Während wir hinter ihr endlich das sehen, woran sie während seines ganzen Monologs gearbeitet hat: einen mehrstöckigen römischen Sandpalast inklusive Statuen…
Fazit vielleicht: Männer schwingen große Reden und schaffen wenig. Wohingegen Frauen großes vollbringen, es aber selbst missachten. Vielleicht weil die Größe der Rede (noch) wichtiger ist, als die Größe der Tat…
Ob sich das seit Moers diesen Comic 1989 zeichnete geändert hat? Immerhin hat Deutschland seine erste Kanzlerin, die USA ihre erste Präsidentschaftskandidatin und weit mehr Frauen sind in Führungspositionen als vor 25 Jahren. Zumindest im Westen. Und doch… die „Schattendynamik“ bleibt. Frauen übertreiben in ihrer Bescheidenheit. Männer übertreiben in der Bewertung ihrer Leistungen. Und beide verstricken sich oft hoffnungslos in der unsachlichen Bewertung aller Leistungen.
Konditionierung der Wahrnehmung
Warum das so ist? Weil es offenbar in unserer Kultur seit der Blüte des Patriarchats die kollektive Konditionierung gibt, dass Männer älter, größer, stärker, führend sein müssen. Entsprechend ist ihr Wasserglas immer „schon halbvoll!“ Während Frauen jünger, kleiner, schwächer und führungsbedürftig sein müssen und also ist ihr Wasserglas immer „noch halbleer“.
Es hat jedoch schon immer Frauen gegeben, die physisch größer waren als ihre Ehemänner. Oder Männer, die beruflich weniger prominent oder erfolgreich waren,als ihre Ehefrauen ohne dass dies intern die Qualität der Beziehung beeinträchtigt hätte. Dennoch ist dies für viele – bis heute – ein Handicap. Alles, was von der konditionierten Norm zu weit abweicht, erzeugt Unbehagen.
Nicht nur bei den Betroffenen, sondern auch und oft noch mehr in der sozialen Umgebung
Das klassische Beispiel sind große Altersunterschiede in beide Richtungen. Doch auch physische Größenunterschiede und Gehaltsunterschiede können das harmonische Gleichgewicht in einer Beziehung empfindlich gefährden und letztlich zu deren Scheitern bzw. deren Nicht-zustande-kommen führen. Wie sehr dieses mehr oder wenige subtile Beharren auf der männlichen Überlegenheit und der weiblichen Unterlegenheit das Zustandekommen von Paarbeziehungen beeinflusst, ist ein eigenes Thema, das ich vielleicht in einem weiteren Artikel behandeln werde. Jetzt geht es mir lediglich darum, festzustellen, wie sehr wir in Bezug auf die Geschlechterrollen konditioniert sind und sich dieses antrainierte Rollenspiel nur bewusst durch das eigene Verhalten ändern lässt.
Gefahren beim Kaffee
Richtig wichtig wird dieses Verhalten in einem beruflichen Umfeld, wo Rang eine Rolle spielt – der ist interessanterweise weniger Abhängig von Status und Gehalt, als von persönlicher Autorität und zum Ausdruck gebrachtem Selbstwertgefühl. Letzteres kann man lernen und so gibt es jede Menge Berufscoachings, die darauf abzielen, Menschen eine Körperhaltung und Sprache zu vermitteln, die ihnen das Maß an Respekt und Achtung bescheren können, die sie erstreben. Dabei gibt es für Männer und Frauen unterschiedliche Strategien.
Beispielsweise ist es bei einem Konferenzgespräch mit Frauen und Männern fatal, wenn die Frau den Kaffee ausschenkt und die Kekse verteilt – damit kommuniziert sie automatisch einen niedrigen Rang, während wenn ein Mann das macht, es als charmante Geste wahrgenommen wird – gerade unter Frauen und so im Ansehen steigt.
Die Kommunikationstrainerin Kornelia Straub-Kuri empfahl in einem Interview der Frankfurter Allgemeinen Zeitung am Sonntag vom 8./9. März 2014 Frauen, die mehr Ansehen wünschen, sich weibliche Vorbilder zu suchen, die dies auf positive Weise verkörpern. Allen voran die britische Königin, deren Alpha-Status nie bezweifelt wird.
Männliche und weibliche Wahrnehmung im Beruf
In ihrem Buch „Spielregeln der Führung“ listet sie auf, worin sich souveräne Frauen und Männer von einander und vor allem auch von unsouveränen Geschlechtsgenossen unterscheiden:
Eine souveräne, ranghohe Frau fordert soziale Regeln ein, lässt sich bedienen, gewährt, ermahnt, hat einen festen Blick, macht klare und direkte Gesten und nutzt die hochgezogene Augenbraue.
Unterwürfige Frauen schenken den Kaffee nach, lächeln ununterbrochen, kichern, spielen mit dem Haar, halten den Kopf leicht schräg, weichen Blicken aus und haben eine hohe, aufgeregte Stimme.
Ein souveräner, ranghoher Mann gibt Anweisungen, stellt Forderungen, nimmt Raum ein, doziert, hat einen festen Händedruck, wendet sich bewusst ab und hat ein gönnerhaftes Auftreten.
Unterwürfige Männer dagegen stehen stramm, dienen, tragen, geben Raum, nicken, haben eine geduckte Haltung und bestätigen.
Und immer die Polarisierungen…
Bei der Betrachtung dieser Liste dachte ich, dass ein guter Chef oder eine gute Chefin sich im besten Sinne durch väterliche bzw. mütterliche Qualitäten auszeichnen und vor allem den Respekt der anderen erwarten und einfordern. Richtig sexy werden sie, wenn sie dabei auch würdig mit ihrer Geschlechterrolle umgehen können. Nach meiner Beobachtung ist das für Frauen in Deutschland offenbar sehr schwer, denn all die Damen in Führungspositionen die eben offene Decolletés vermeiden und den neutralisierenden Hosenanzug und dezentes Make-up bevorzugen.
In Frankreich sieht das anders aus. Da sind auch Frauen in Führungspositionen oft – nicht immer – echte „Weiber“, einschließlich hoher Absätze, weiten Ausschnitten und teuren Parfüms… In den USA scheinen Frauen in Führungspositionen oft gut und teuer gekleidet zu sein und tragen häufig Schmuck, aber vermeiden auch alles, was zu sehr von ihrer öffentlichen Funktion ablenken könnte. Hilary Clinton ist ein Beispiel dafür. Die US-Talkkönigin Oprah Winfrey jedoch erhält sich ihren Sexappeal auf souveräne Weise. Die beiden sind ein gutes Beispiel, weil ihr Altersunterschied nur sieben Jahre beträgt. (Oprah ist die Jüngere.)
Sich immer auf Augenhöhe begegnen können
Aber letztlich geht es wohl darum, dass die meisten von uns in Wirklichkeit einander auf Augenhöhe begegnen möchten und das geht nur, wenn alle einen gesunden Selbstwert haben und weder sich noch andere in Bezug auf das eigene Wesen auf- oder abwerten. Das ist gar nicht so einfach, denn wir Menschen neigen dazu, uns mit anderen zu vergleichen und uns dementsprechend ein- bzw. unter- bzw. überzuordnen … weil wir so konditioniert sind, dass nur dann die Gesellschaft funktionieren kann. Wie eben auch Hühner eine Hackordnung brauchen… Aber sind wir Hühner?
Diese Falle lauert immer irgendwo und meist näher, als wir ahnen. Und gar nicht mal immer nur in Abgrenzung zum anderen Geschlecht.
Die Fallen lauern überall
Bis zu diesem Artikel und dem Hinweis einer lieben Freundin, die mich auf mein eigenes Stolpern in diese Falle aufmerksam machte und damit den Anstoß zu diesem Artikel gab, hatte ich auf dieser Webseite unter „Über diesen Blog“ noch den Satz stehen: „Im Übrigen ist dieser Blog für mich ein persönliches Experiment. Sowohl inhaltlich als auch formal bin ich noch am Anfang und es wird sicher seine Zeit dauern, bis die angestrebte Professionalität erreicht ist.“ Besagte Freundin wies mich empört darauf hin, dass Blogs grundsätzlich Experimentalcharakter haben und ich meine Leistung – die sie schon ziemlich professionell findet – von vornherein in den Augen meiner Leser beschneiden würde. Und dann kam der magische Schlusssatz: „Ein Mann würde das NIE tun!“
Das saß – und einsichtig habe ich den peinlichen Satz inzwischen gelöscht: ich stehe zu der Qualität dieses Blogs, wie auch immer sie sich in den Augen der werten Leser gerade ausnehmen mag!
Wie kommen wir aus der Wertungsfalle heraus?
Seit dem bemühe ich mich, noch bewusster mit diesbezüglichen Konditionierungen umzugehen. Und ich denke oft darüber nach, wie man Männern so begegnet, dass sie sich im besten Sinne männlich fühlen können. Und ich überlege, wie ich mir wünsche, dass Männer mir begegnen, damit ich mich im besten Sinne fraulich fühlen kann.
Offensichtlich beginnt dies schon mit Gesten der Höflichkeit, wie eine Frau zuerst durch eine Tür gehen zu lassen, ihr aus- oder in den Mantel zu helfen, die Autotür aufzuhalten… Souveränes Kavalierverhalten (da wäre sie wieder, die Ritterlichkeit…)
Und Frauen… sollten Männer für dieses Verhalten echt loben und sich dankbar erweisen… wenn er die Einkaufstaschen schleppt, einen guten Tisch im Restaurant wählt und einen aufdringlichen Bettler freundlich abwehrt – ganz souveräne Männer machen das mit großzügigen Geldbetrag gütiger Ermahnung.
Und vielleicht sollen wir uns alle noch viel öfter gegenseitig ehrliche Komplimente machen. Wir sollten wirklich sagen, wenn wir sie oder ihn attraktiv finden – was auch immer gerade der Auslöser dafür ist! Ich denke noch weiter nach und freue mich über Anregungen, wie das noch besser gelingen kann. Doch ich denke, einander öfter und deutlich zu würdigen ist ein guter Anfang!