Von der Venus mit Penis zu Conchita Wurst, Teil 1

930 1389 Elisabeth Karsten

Das im vorigen Artikel beschriebene „Kontinuum zwischen den Polen von männlich-weiblich“ gibt es mit großer Wahrscheinlichkeit schon genauso lange, wie es beide Geschlechter gibt. Und je nachdem, auf welche Zeit und Gesellschaft man den Blick lenkt, erfährt das Thema mehr oder weniger Aufmerksamkeit. Mal mehr, mal weniger umstritten – in jedem Falle durchdringt es alle möglichen gesellschaftlichen Bereiche.

Mythologische Varianten

Die Hindus haben vielleicht die bezauberndste Gottheit, die der Vereinigung von männlich-weiblich einen würdigen Ausdruck gibt. Die bereits erwähnte hinduistische Gottheit Ardhanarishvara entspringt der vereinigten Gestalt von Shiva und seiner Partnerin Parvati. Sie ist wirklich Mann und Frau in einem. Damit ist sie ein Ausdruck der Ureinheit von allem, aus der alles entspringt… Die ältesten erhaltenen Darstellungen stammen aus dem ersten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung.

Die alten Griechen haben in ihrer Mythologie den ebenfalls bereits erwähnten Hermaphroditos. Dieser hat mit Penis und Brüsten sowohl männliche als auch weibliche Geschlechtsmerkmale. Er wurde besonders auf Zypern als männlicher Ausdruck der Liebesgöttin Aphrodite verehrt. Der Kult des Hermaphroditos und der „bärtigen Venus“ hatte seine Blüte wohl um das 6. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung. Zu Hermaphroditos gehört auch unbedingt Androgyne. Über diese Gottheit ist nichts bekannt, außer dass es Gegenden im antiken Griechenland gab, wo eine bärtige Göttin verehrt wurde. Ein Ausdruck dieses Kults war, dass die Anhänger sich als Angehörige des anderen Geschlechts verkleideten.

Übergangsformen Matriarchat-Patriarchat

Dies sind laut dem britischen Mythenforscher Robert von Ranke-Graves religiöse Stufen im Übergang von Matriarchat zu Patriarchat. Er zählt auch die oft weibische Darstellung des Fruchtbarkeitsgottes Dionysos dazu.

Im späteren Mythos von Ovid (um Beginn unserer Zeitrechnung) ist von der Kultfigur nichts mehr übrig. Stattdessen erleidet der Sohn der Götter Hermes und Aphrodite – denen er auch seinen Namen verdankt – ein tragisches Schicksal. Dieses macht ihn letztlich zu einem unglücklichen Doppelwesen. Das entspricht der Haltung des Patriarchats und seinem Hang zu klaren Grenzen. Und passend auch dazu sein Name als Beschreibung eines „Missstandes“ in der Natur, nämlich wenn Wesen „doppeltgeschlechtlich“ sind, wie z.B. Schnecken oder Regenwürmer. Früher galt der Begriff „Hermaphroditismus“ auch für Menschen, mit beiden Geschlechtsmerkmalen. Aber das ist sowohl biologisch, als auch kulturell überholt. Biologisch gilt er nur noch für Wesen, die auch in „beide Richtungen“ fortpflanzungsfähig sind, in der Biologie auch als „Zwitter“ bezeichnet. Kulturell ist der korrekte Begriff heutzutage intersexuell.

Die alten Ägypter hatten ebenfalls eine doppelgeschlechtliche Gottheit: Hapi. Diese war zuständig für die jährliche Überflutung des Nilufers und also Ausdruck einer reichhaltigen Befruchtung. Er war männlich, trug einen Bart und hatte doch Hängebrüste und einen großen Bauch.

Interessanterweise gibt keine Legenden, in denen die wirklich besondere, vielleicht sogar heilige Eigenschaft dieser Gottheiten Beachtung findet: nämlich ihre einzigartigen Möglichkeiten beide Geschlechter beglücken zu können…

Spirituelle Funktionen

Doch tatsächlich gilt in einigen Kulturen die „Zweigeschlechtlichkeit“ als heilig. Natürlich weniger, wegen der sexuellen Möglichkeiten, als wegen ihrer Verortung in diesem „besonderen Zwischenraum“. Menschen, die sich darin aufhalten, gelten als besonders …grenzkundig… sind. Und auch, weil sie dadurch dem Göttlichen vielleicht näher sind und gar über magische Fähigkeiten verfügen.

Schamanen in Frauenkleidung

So ist es unter den mongolischen Schamanen des Bo-Kultes Sitte, dass der initiierte Schamane Frauenkleidung trägt. Auch in alten Germanengräbern fand man jüngst Männerkörper in Frauenkleidung und vermutet, dass es sich um Schamanen handelte… Auch wenn ich persönlich prä-historische Travestiekünstler durchaus vorstellbar finde!

Two Spirits

Die in den USA anerkannten, sogenannten „Two Spirits“, die von sich sagen, dass sie beides absolut gleichwertig sind, weil in ihrem Körper sowohl eine männliche, als auch eine weibliche Identität wohnt. Diese spezielle Position und oft besondere spirituelle Rolle wird bei vielen nordamerikanischen Indianergruppen gewürdigt und unterstützt. Bei den meisten Indianerstämmen gibt es keine streng getrennten Geschlechterrollen, aber bei jenen, wo das der Fall ist, werden mindestens vier unterschieden: männliche Männer, weibliche Männer, männliche Frauen und weibliche Frauen.

Radical Faeries

In diese Rubrik passen wohl auch die „Radical Faeries“: eine weltweite lose Gruppe von Menschen, die den heterosexuellen Lebensstil ablehnt und nach einem neuen, queeren Ausdruck sucht. Dabei spielt Spiritualität in einem undogmatischen Sinn eine gewisse Rolle. Ihnen liegt die Überwindung konventioneller Geschlechterrollen am Herzen zugunsten eines generell achtsamen Umgangs miteinander. Als erste Bewusstseinsbewegung, die aus der Homosexualität entspringt ist sie ein weltweites Phänomen. Sie hat ihren Ursprung in der schwulen Szene der 70er Jahre in Amerika. Ursprünglich war „fairy“ ein abwertender Ausdruck im Englischen für einen homosexuellen Mann, doch diese Gruppe hat ihn offensichtlich heiter umdefiniert und identifiziert sich mit der ursprünglichen Bedeutung: der Fee als natürlichem und Naturwesen…

Ethnologische Nischen

In einigen Ländern ist die Transgenderkultur schon länger viel offensichtlicher und etablierter, als im Westen:

Hijra

In den Gesellschaften Südindiens gibt es die Gemeinschaften der „Hijra“, die als Mitglieder des „dritten Geschlechts“ definiert werden, was auch formaljuristisch seit 2009 Gültigkeit hat.

Meist sind dies Männer, die einen weiblichen Ausdruck vorziehen. Traditionell verdienen Hijras ihr Geld und ihre Anerkennung durch Tanzen und Segnungen bei Hochzeiten, Hauseinweihungen und Geburten von Söhnen. Doch das reicht meist nicht aus und weil kaum andere Berufe zur Wahl stehen, arbeiten viele als Prostituierte.

Hijras begreifen sich Schutzbefohlene der Göttin Bahuchara Mata, die überhaupt von den Transsexuellen Indiens angebetet wird. Diese launische Hindu-Göttin hat einige heftige Mythen: u.a. betete einst ein König sie um einen Sohn an. Der Sohn wurde geboren, doch war er impotent. Die Göttin erschien dem Prinzen im Traum und befahl ihm, sich die Genitalien abzuschneiden, Frauenkleidung zu tragen und ihr zu dienen – wenn er das nicht täte, würde er die nächsten sieben Inkarnationen impotent sein müssen… So springt diese wenig barmherzige Göttin mit impotenten Männern um und das erklärt auch die häufige, oft rituelle Selbst-Kastration und das Zölibat der Hijras. Es gibt auch eine andere Legende, in der sie eine indische Braut war, der sich ihr Mann verweigerte und stattdessen lieber im Wald in Frauenkleidern herumlief – aus Rache kastrierte sie ihn…

Chanit

Im Oman leben die Chanith (oder Xanit) – ist das umgangssprachliche Wort im Oman für Männer, die die männliche Geschlechterrolle ablehnen und/oder aus westlicher Sicht intersexuell sind. Sie werden im Prinzip als Eunuchen angesehen, denn sie besitzen männliche Geschlechtsorgane sind jedoch sexuell nicht aktiv und gelten also als impotent. Im omanischen Verständnis bedeutet Mann = sexuell aktiv. Wer als Mann nicht mit einer Frau sexuell aktiv sein kann oder will – dem bleibt diese Nische im Gendercode.

Die Chanit haben einen Zwischenstatus, sowohl von ihrer Erscheinung her als auch im sozialen Gefüge. Sie tragen sowohl Männer- , als auch Frauenkleidung – wobei sich letzterer oft in der Farbgebung von üblicher Frauenkleidung absetzt. Sie haben einen halblangen Haarschnitt, den sie unverhüllt tragen. Im Verhalten sind sie Frauen meist näher, sie benutzen viel Parfum, bewegen sich weiblich und sprechen gerne mit hoher Stimme. Aufgrund ihrer Grenzposition können sie sich sowohl im häuslichen Bereich der Frauen, wie auch im öffentlichen Bereich der Männer bewegen. Bei Hochzeiten und anderen wichtigen Ereignissen nehmen sie eine wichtige Rolle ein.

Kathoey

Im thailändischen Verständnis umfasst Kathoey ursprünglich alle, die von ihrem ursprünglich biologischen männlichen bzw. weiblichen Rollenverständnis abwichen. Schon in den buddhistischen Ursprungsmythen ist von drei Geschlechtern die Rede – nämlich, männlich, weiblich und „zwitter“ – eben Kathoey und welches Geschlecht wir haben, ist auch – nach buddhistischer Lehre – von unserem Karma abhängig und man kann niemandem sein Karma und seine Folgen vorwerfen. So ist ihre Akzeptanz in der thailändischen Gesellschaft ist viel älter und weitreichender, als die Trans- oder Intersexueller in westlichen Gesellschaften.

Meist sind die Kathoey biologische Männer mit femininen Eigenschaften oder weiblicher Identifikation, die maskuline Männer begehren. Sie schlüpfen entweder dauerhaft oder gelegentlich in weibliches Rollenverhalten, inklusive Kleidung und Make-up. Manche von ihnen sind auch echte transsexuelle, inklusive Operationen und Hormonbehandlung.

Doch auch für sie ist der Arbeitsmarkt schwierig, meist sind sie in der Unterhaltungsindustrie und im Rotlichtmilieu beschäftigt.

Fa‘afafine

Auch in Polynesien wird ein drittes Geschlecht gesellschaftlich anerkannt. In der Regel sind die Fa’afafine bei ihrer Geburt männlich, aber verfügen über ausgeprägte männliche und weibliche Eigenschaften – die sie auf einzigartige Weise in ihrer Gesellschaft zum Ausdruck bringen können. Meist werden sie schon als Kinder identifiziert, wenn sie selbst merken, dass sie Dinge lieber auf weibliche Weise als auf männliche Weise tun. Von ihrer Erscheinung her können sie extrem weiblich bis extrem männlich wirken. Sie sagen von sich, dass ihre Rolle nicht mit der Homosexueller anderer Gesellschaften vergleichbar ist, auch wenn ihre Partner in der Regel männlich sind, gelegentlich auch weiblich und selten ebenfalls fa’afanfine.

Eingeschworene Jungfrauen

Burrneashas oder Virgjineshas sind Frauen auf dem Balkan, die in ihrer Familie die Rolle des Mannes übernehmen. Sie legen vor den Ältesten ihrer Gemeinde einen entsprechenden Schwur ab und werden fortan an als Mann behandelt. Ab dann tragen sie Männerkleidung und Waffen und verzichten auf sexuelle Beziehung und eine Ehe. Damit sind sie die einzige institutionalisierte Cross-Gender Kultur in Europa.

Das Abschwören von der Weiblichkeit war oft die einzige Möglichkeit für eine Frau einer arrangierten Verheiratung zu entgehen, ohne dass ihre Familie entehrt wurde. Außerdem war es für Familien, in denen es an Männern fehlte, eine Möglichkeit, den Schutz und die Autorität ihres Klans zu erhalten. Das war in einer Region, in der oft alle erwachsenen männlichen Familienmitglieder Opfer von Blutrache wurden, oftmals nötig. Dies war vor allem in ländlichen Gegenden üblich und nicht nur auf Albanien beschränkt, doch ist Albanien heute der einzige Ort wo noch ein paar Dutzend eingeschworener Jungfrauen leben.

Situative Notwendigkeit

Und immer wieder hat es Situationen gegeben, in denen die Kleidung des anderen Geschlechts das Leben gesichert oder massiv erleichtert hat. So haben sich während der Kriege immer wieder Frauen als Männer verkleidet, um Vergewaltigungen zu entgehen, oder Männer als Frauen, um unbeschadet desertieren zu können oder einem Massaker zu entgehen.

Außerdem haben immer wieder Menschen ihr biologisches Geschlecht verleugnet, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen, was eben dem anderen Geschlecht vorbehalten war:

Dazu gehört z.B. die Chinesin Hua Mulan (die Vorlage des Disney-Films Mulan), die sich zur Zeit der nördlichen und südlichen Dynastien (420-589) als Mann verkleidete, um ihrem alten, gebrechlichen Vater den Krieg zu ersparen, so erzählt es jedenfalls eine alte Ballade. Man weiß nicht, wieviel Wahres daran ist.

Genauso auch ist die Geschichte von Päpstin Johanna umstritten. Dennoch hat sie bis heute nichts von ihrer provokativen Kraft eingebüßt. Im Mittelalter soll eine kluge und gelehrte Frau als Mann verkleidet durch die klerikalen Hierarchien bis zur Papstposition aufgestiegen sein. Doch soll sie während einer Prozession ein Kind geboren haben und kurz danach gestorben sein. Entweder durch natürliche Umstände oder durch Mord…

Eine sicherlich reale Kämpferin in Männerkleidung war Johanna von Orléans (c.1412-1431). Sie leugnete allerdings nie, eine Frau zu sein. Im Gegensatz zur Spanierin Catalina de Erauso (1592-1650). Dieser gelang es bis zu ihrem eigenen Geständnis, unentdeckt als Soldat in der spanischen Armee in Süd-Amerika zu dienen.

Shi Pei Pu war ein männlicher Sänger der Peking Oper. Ihm gelang es es während der Kulturrevolution den französischen Diplomaten Bernard Boursicot davon zu überzeugen, dass er eigentlich eine Frau war. Doch schließlich kam die Wahrheit auf spektakuläre Weise ans Licht. Die Geschichte ist recht dramatisch und wurde zur Grundlage des Theaterstücks und gleichnamigen Films „M.Butterfly“ von David Henry Hwang.

Gesellschaftliche Provokation

Gar nicht heimlich, dafür aber vielleicht umso provokativer, agierte der französische Diplomat, Soldat und Spion Charles Geneviève Louis Auguste André Timothée d’Éon et Beaumont allgemein bekannt als Chevalier d’Eon (1728-1810) – der die ersten fünfzig Jahre seines Lebens als Mann lebte und sich dann entschied den Rest seines Lebens als Charlotte zu leben. Da er Zeit seines Lebens zwischen den Geschlechtern oszillierte – er veranstaltete u.a. Fechtduelle in Frauenkleidern, rätselte Frankreich bis zu seinem Tod um sein wahres Geschlecht. Als er starb wurde es schließlich öffentlich, dass er männliche Genitalien hatte.

George Sand (1804-1876) war das Pseudonym der französischen Schriftstellerin Amandine Aurore Lucile Dupin. Sie war eine Schriftstellerin im frühen 19. Jahrhundert, die Männerkleidung der Frauenkleidung vorzog. Madame rebellierte gegen die traditionelle Frauenrolle in ihrer Gesellschaft: schließlich verdiente sie mit dem Schreiben ihren Lebensunterhalt und versorgte nach ihrer Scheidung ihre Kinder selbst. Sie war eine frühe Feministin.

Reale und fiktive Idole

Besonders interessant ist das fiktive Alterego des französisch-amerikanischen Künstlers Marcel Duchamp (1887-1968).  Als schöne und erotische Rrose Sélavy (Rose ist ein Anagram von Eros und Selavy ist eigentlich c’est la vie: Eros – das ist das Leben) gab er seiner weiblichen Seite Ausdruck. Zunächst auf Photos seines Freundes Man Ray und als selbständige Künstlerin mit eigenen Kunstwerken und Texten…

Und als Abschluss zu diesem Aspekt möchte ich die deutsche Schauspielerin und Sängerin Marlene Dietrich (1901-1992) erwähnen. Sie trug in ihrem ersten Hollywoodfilm „Marokko“ (USA 1930) erstens einen Smoking  und küsste zweitens eine Frau. Bis dahin war der Smoking ein den Männern vorbehaltenes Kleidungsstück gewesen. Marlene fand überhaupt Gefallen darin, sich in Herrenkleidung fotografieren zu lassen. Die von ihr gerne getragenen, weit geschnittenen und hoch in der Taille sitzenden Stoffhosen wurden als „Marlene-Hosen“ bekannt. Diese unterstrichen ihre androgyne Ausstrahlung, die Männer, wie Frauen gleichermaßen reizte. Der britische Theaterkritiker und Autor, Kenneth Tynan, der mit ihr befreundet war, erklärte: „Sie hat Sex, aber kein eindeutiges Geschlecht.“

Im nächsten Artikel werde ich mich der Frage widmen, was an der öffentlichen Überschreitung der Geschlechtergrenze so reizvoll ist, das sie ein fester Bestandteil unserer Unterhaltungsindustrie geworden ist und auch warum es so viel mehr Dragqueens als Dragkings gibt…

 Anmerkung zum Schluss: die Recherche für diesen Artikel wurde ungemein durch Wikipedia erleichtert. Danke allen, die mit ihrer Arbeit diese Plattform unterstützen.