Natürlich habe ich geforscht, ob es eigentlich einen Gott oder eine Göttin oder wenigstens einen Heiligen des Gleichgewichts gibt. Aber tatsächlich scheint das Gleichgewicht, sogar von Kräften, keine würdige Domäne. Weder für Götter, noch für Heilige.
Selbst Justitia, die mit ihrer Waage zumindest dem Anschein nach für Gleichgewicht sorgt, ist vor allem zuständig für Gerechtigkeit. Doch diese ist höchstens ein Aspekt des göttlichen Balanceprinzips.
Vielleicht hätte die griechische Göttin Harmonia (römisch: Concordia) noch eine Chance gehabt, als Gleichgewichtsgöttin gehabt. Immerhin ist sie die Tochter von Aphrodite/Venus (Liebe) und Ares/Mars (Krieg). Doch sie ist nicht einmal für das zuständig, was wir Harmonie nennen. Sondern viel mehr für Eintracht, also für Konsens und Einstimmigkeit. Das ist nicht unbedingt die ausgewogene Vereinigung von Gegensätzen.
Auch ein passender Heiliger war nicht zu finden. Dabei gibt es sogar christliche Heilige für schwierige Hochzeiten (St. Phillip Howard von Arundel). Für dringende Angelegenheiten (St. Expedit) und zwei (!) fürs Internet (St Isidor von Sevilla und St. Jakob Alberione.) Aber nicht mal einen für wenigstens ökologisches Gleichgewicht. Am nächsten kommt dem noch Naturschutz, das Patronat von St. Franziskus und der Indianerin St. Kateri Tekakwitha. Übrigens gibt’s auch keinen für Mäßigung und Maßhalten – was zumindest etwas in die Richtung von Gleichgewicht ginge.
Vereinigung von Gegensätzen ist offenbar kein Ausdruck von Gleichgewicht
In der griechisch-römischen Mythologie gibt es Hermaphroditos, ein gemeinsames Kind von Aphrodite und Hermes. Es heißt, er war ein „Jüngling mit langem Haar und weiblichen Brüsten.“ Das meiste über ihn ist beim römischen Dichter Ovid zu finden. Dieser verpasst ihm einen Mythos, demzufolge sich des unschuldigen Jünglings während eines Bades in einem Teich, eine liebestolle Nymphe bemächtigte. Diese bat die Götter Hermes und Aphrodite, untrennbar mit ihm verbunden zu werden. Die Götter gewährten ihr die Bitte und die beiden verschmolzen zu einem und waren fortan eine Zwittergestalt.
Als Hermaphroditos sein Schicksal bemerkt, bittet er seine göttlichen Eltern darum, dass jeder der in demselben Teich badete wie er, sein Schicksal teilen würde. Die Eltern gewährten auch seinen Wunsch.
Durch sein Schicksal wurde er auch zum passenden Namensgeber des Phänomens, wenn Wesen weibliche und männliche Geschlechtsmerkmale aufweisen. In der Wissenschaft wird dies als Hermaphroditismus bezeichnet. Bei Menschen galt das noch bis in die jüngste Zeit als Krankheitsbild und erhält gerade erst unter der Bezeichnung Intersexualität allmählich eine gesellschaftliche Akzeptanz, die Menschen mit diesen Eigenschaften nicht mehr ohne weiteres zum Außenseiter macht.
Dieser ursprünglich negative Blick auf die „Uneindeutigkeit“ der geschlechtlichen Erscheinung ist schon bei Ovid angelegt. Denn der Dichter hätte auch die göttliche Qualität dieser machtvollen Vereinigung betonen können. Dann wäre es vielleicht keine magisch übergriffige Nymphe gewesen, sondern die Kraft der Liebe zueinander hätte sie eins werden lassen können… So aber ist Hermaphroditos kein Repräsentant der geglückten Balance, sondern eher der verunglückten Zwangsvereinigung, oder wie es bei Ovid heißt „Er war sowohl Mann und Frau und doch weder das eine noch das andere.“ Das hat etwas von zwei Sackgassen und damit taugt er also nicht wirklich als Gott des Gleichgewichts.
Keiner der griechischen, römischen und germanischen Gottheiten ist wirklich geeignet
Die einzigen Götter, die in der germanischen Mythologie mal über die Geschlechtergrenze gehen, sind Thor und Loki. Sie tun das, um Thors Hammer wieder zu gewinnen. Den hatte ein gewisser Riese namens Thrym geklaut, um als Lösegeld die Liebesgöttin Freya als Braut fordern zu können. Freya will aber natürlich nicht. So erfordert eine List von Loki, dass Thor sich als Braut verkleidet. Er selbst mimt die Brautjungfer. Gemeinsam begeben sie sich an den Hof des Riesenkönigs, der entzückt ist vom Anblick der vermeintlichen Braut. Als im Zuge der Trauungszeremonie der Hammer hervorgeholt und in den Schoss der Braut gelegt wird, schnappt sich Thor diesen blitzschnell. Er zertrümmert den Schädel des Bräutigams und auch gleich die Schädel der anderen Riesen. Denn jetzt hat er die Macht über seinen Hammer wieder.
Doch diese Aktion qualifiziert Thor und Loki weniger als potentielle Götter des Gleichgewichts, als zu möglichen Patronen der Dragqueens. Außerdem ist Thor der Gott des Donners (dafür braucht er auch den Hammer…) und im Grunde also ein gefürchteter Kampf- und Kriegsgott. Und Loki ist mit seinem Hang zum Unruhestiften eher ein Gott des Chaos und damit einer der Ungleichgewichte schafft. Das braucht es zwar auch: für das Gleichgewicht des Gleichgewichts braucht es auch das Ungleichgewicht – so paradox das klingt. Aber das alleine reicht eben auch nicht.
Eine hinduistische Gottheit ist ziemlich nah dran!
Am ehesten entspricht meiner Vorstellung von einem Gott des Gleichgewichts die Gestalt des indischen Ardhanarishvara. In einer der hinduistischen Mythen wird berichtet, dass es in der Schöpfungsgeschichte eine Zeit gab, in der die Geschöpfe sich nicht vermehrten. Da teilte sich der Gott Shiva selbst und nahm mit der rechten Körperhälfte die Gestalt eines Mannes und mit der linken, die einer Frau an. Dann teilte er sich in Shiva und Parvati – die den Fruchtbarkeitsaspekt verkörpert – und schuf neue Wesen.
Dieser androgyne Shiva – der gleichzeitig Mann und Frau ist – ist ein Symbol für die Ureinheit von allem, die sich dann in ihre polaren Gegensätze spaltet. In dieser Gestalt trägt Shiva den Namen Ardhanarishvara. Interessanterweise gibt es unter den vielen bildlichen Darstellungen der Gottheit auch manche, bei der die weibliche Seite rechts und die männliche links ist. (Und für jene, die spekulieren wie so eine vertikale Spaltung physisch aussehen soll: es bleibt ein müssiges Unterfangen. Denn die indischen Götter werden in der Regel bekleidet dargestellt, so hat er/sie auf der einen Seite den männlichen Dhoti an, auf der anderen den weiblichen Sari…)
Durch seine Verkörperung der Einheit von Mann und Frau geht Ardhanarishvara tatsächlich über den Ausdruck des Gleichgewichts hinaus: seine Gestalt ist der Ausdruck der Verschmelzung, die absolute Einheit, aus der alles entspringt. Da muss gar kein Gleichgewicht mehr hergestellt werden…es ist längst und immer da – wenn man ALLES mit einbezieht. Doch damit Schöpfung möglich ist, wird die Spaltung in gegensätzliche Pole gebraucht…und damit beginnt das ewige Spiel der göttlichen Balance. Aus dieser Sicht ist Ardhanarishvara weniger ein Hüter als ein Erzeuger der Balance – die ohne gegensätzliche Pole nicht vorstellbar wäre.
In gewissem Sinne ist der Gott der Balance die Balance selbst!
Vielleicht ist keine einzelne Gottheit wirklich geeignet, die gesamte göttliche Ordnung zu repräsentieren, inklusive des metaphysischen Gleichgewichts aller Kräfte und Dynamiken. Vielleicht, weil diese göttliche Balance, die kosmische Harmonie, ein Ausdruck des Göttlichen schlechthin ist – wie auch immer der einzelne das für sich bezeichnen mag. Damit sind auch alle Götter und Gottheiten ein Teil davon.
Michael Roads, der moderne Mystiker und spirituelle Lehrer aus Australien, sagt gerne dass, einer seiner Lieblingsbezeichnungen für Gott „das endlose Lied der unendlichen Balance ist“. (Offenbar stammt diese schöne Formulierung von den Dichtern Lucille O’Dell und Robin Arnold, deren Bändchen mit Lyrik und Erzählungen den schönen Haiku-esken Titel hat: „Das endlose Lied vom unendlichen Gleichgewicht: Verwirklichung der Nicht-Kraft, die alle Kraft ist.“) Das trifft diesen Ansatz ziemlich genau.
Damit ist jeder einzelne von uns und wir alle zusammen ein Ausdruck dieser Göttlichen Balance. Ich finde, das macht uns alle gleichzeitig auch zu Göttern dieses unendlichen Gleichgewichts. Denn ein jeder von uns ist auf seine Weise beständig bestrebt, den ihm gemäßen Platz in der kosmischen Ordnung, im sensiblen und ewig dynamischen Gleichgewicht aller Kräfte einzunehmen.