Disneyfilme haben bekanntermaßen eine lange Tradition mit Heldinnen, deren Abenteuer in der Regel im Brautkleid endet. Doch die „Eiskönigin – völlig unverfroren“ bzw. „Frozen“ (USA 2013) fällt deutlich aus dem Rahmen. Es ist eine interessante Frage, ob Disney wirklich das beabsichtigt hat, was schließlich dabei heraus gekommen ist.
Das besondere Element des Films
In diesem Fall ist es die Tatsache, dass die Liebe zwischen Schwestern die Erlösung birgt. Nicht, wie sonst so oft, die Liebe zwischen Mann und Frau. Das ist ungewöhnlich und es schien den Machern so lohnend, dass dies zum Kernpunkt der Geschichte wurde.
Die Drehbuchautorin Jennifer Lee wird mit der Aussage zitiert, dass sie von Anfang an wussten, die „Liebe der Schwestern“ würde die Lösung bringen. Auch wenn sie nicht wussten wie. Dieses „Wissen“ ist das, was ich gerne als die „Magie“ einer Geschichte bezeichne. Dieser Zauber, wenn ihr Wesen beginnt, einen in ihren Bann zu ziehen, ohne dass man erklären könnte, warum. Doch die emotionale, oft mythologisch Wahrheit ist spürbar. Diese zu entdecken, bedeutet ein kraftvolles Samenkorn zu finden, das man zur Blüte bringen kann.
Der Film ist ungewöhnlich erfolgreich. Nicht nur wegen der legendären Geschäftstüchtigkeit und Werbung von Disney. Das leisten das auch bei ihren anderen Filmen, wie z.B. zuvor Rapunzel-Neu verföhnt (USA 2010). Doch die Eiskönigin wurde zum bisher erfolgreichsten Animationsfilm und zum fünfterfolgreichsten Film der Kinogeschichte bisher.
Die Fesseln der Selbstbeschränkung sprengen…
Was also macht diesen Zauber dieses Films aus, der zu diesem Erfolg führt? Eine erste Spur erhielt ich, durch einige Freundinnen in Amerika, aber auch in Deutschland. Sie berichteten, dass das Lied „Ich lass jetzt los“ mit Begeisterung von ihren Töchtern – meist im Alter zwischen 4 und 12 – gesungen würde. Laut und oft und gern im Auto und nicht immer mit Gesangstalent… Es gibt sogar einen amüsanten Youtube Clip von einer völlig genervten Mutter. Seufzend lauscht sie dem Gesang ihrer Tochter und flüstert immer wieder vor sich hin: „Yep, lass es los…lass es einfach los…“ Man kann deutlich spüren, dass die Mutter sich nichts sehnlicher wünscht, als dass die Tochter endlich dieses Lied loslässt, oder vielmehr, von ihm losgelassen wird. Denn viele Mädchen scheint Elsa und ihr Lied besonders zu fesseln.
Dabei ist ‚das‘ Lied zwar eingängig, aber gar nicht so leicht nachzusingen. Der berühmte Refrain mit „Let it go“ kommt dreimal vor, jedes Mal leicht variiert und wurde in mindestens 25 Sprachen übersetzt. (Bei youtube gibt es einen wunderbaren Clip, bei dem die Sängerinnen der verschiedenen Sprachen bei den Aufnahmen im Studio zusammenmontiert wurden.)
Die Kraft des Liedes führt weiter über den Film hinaus
Wie so oft bei Disney, sind Musik, Text und Bilder bestens aufeinander abgestimmt: während sich Elsa visuell von einem braven Mädchen, das sich für ihre schrecklichen Fähigkeiten schämt, in eine selbstbewusste junge Frau im sexy Kleid und lasziver Frisur verwandelt und lustvoll ihrer Kraft Ausdruck verleiht, singt sie davon, dass sie nun alles jetzt loslässt und sich keiner Beschränkung mehr unterwirft. Während sie sich einen eisigen Palast und ein elegantes Gewand erschafft, bekennt sie sich auch singend zu ihrer besonderen Fähigkeit und ihrer neuen Freiheit und nimmt dafür willentlich die Einsamkeit in Kauf. Denn endlich kann sie völlig ungehindert sie selbst sein… Dass es außerdem auch einen Weg gibt, ihre Kraft und ein soziales Miteinander zu vereinen, spielt an dieser Stelle im Film noch keine Rolle.
Dieses Bekenntnis zu totaler Selbstbestimmung und Annahme der eigenen schöpferischen Kraft und der Verantwortung dafür – auch wenn es zunächst einmal Einsamkeit bedeutet – hat eine enorme dramatische und mythologische Wucht, gerade für junge Frauen. Meines Erachtens ist das ein wesentlicher Grund für den Erfolg dieses Films.
Die Andersen-Version passte nicht in unsere Zeit
Ursprünglich basiert der Film auf dem Märchen des dänischen Dichters Hans-Christian Andersen. Doch hat er nur noch wenig mit dieser Geschichte gemeinsam. Das Original lässt sich an diversen Stellen im Internet nachlesen, deswegen wiederhole ich es hier nicht. Nur das zentrale Element eines Mädchens, dass bereit ist, alles zu geben um den geliebten Freund aus den Fängen der Schneekönigin zu retten, ist vielleicht erwähnenswert. Doch das Maß der Veränderung ist nicht so interessant. Viel spannender ist der Verlauf, den die vermeintliche Adaption genommen hat. Denn immer wieder drohte das Projekt bei Disney zu scheitern, weil es ihnen nicht gelingen wollte, eine zeitgemäße Version zu entwickeln.
Ein erster Durchbruch war schließlich, die beiden wichtigen weiblichen Figuren – die Schneekönigin Elsa und die Prinzessin Anna Schwestern sein zu lassen. Damit wurde die Schwesternbeziehung das zentrale Thema des Films und entfernte sich damit von der klassischen Dramaturgie einer Liebesgeschichte. Jetzt ging es plötzlich um das Schicksal zweier Frauen!
Von ihrem Ursprung als Schneekönigin brachte Elsa ihre Fähigkeit der Kryogenik mit. D.h. sie kann mit ihren Händen eine Energie aussenden, die Dinge vereist bzw. Dinge aus Eis entstehen lässt. Warum das so ist – ob ein Fluch die Ursache ist o.ä. wird nicht erzählt und während der Drehbuchentwicklung wurde auch entschieden, auf alle diesbezüglichen Erklärungen zu verzichten. Denn diese hätten den Film unnötig kompliziert gemacht und das Erzähltempo verlangsamt.
Aus der bösen Antagonistin wird eine gute Kontagonistin
Der zweite wesentliche Durchbruch kam, als bei Disney das Produktionsteam gemäß der Studiopraxis, alle 12 Wochen den Stand ihrer Arbeit anderen Kollegen der Firma präsentierte. Es würde natürlich auch die Sequenz gezeigt wurde, in der Elsa „Let it go“ singt und sich dabei von einem ängstlichen Prinzesschen in eine selbstbewusste Eiskönigin verwandelt. Sie wird zu einer selbstermächtigten Frau, die keine Lust mehr hat, ihre Fähigkeiten zu unterdrücken, auch wenn es sie zur Einsamkeit verdammt. Mit dieser Szene eroberte Elsa überraschend die Herzen der Zuschauer. Damit war klar, dass sie sich keineswegs zur Antagonistin ihrer lieben Schwester eignete, geschweige denn zum Bösewicht des Films.
Das bedeutete eine grundsätzliche Veränderung der Geschichte und der Figurenführung. Das Produktionsteam entschied, dass nicht Elsas Charakter, sondern ihre magische Kraft die Hauptherausforderung für die Schwestern war. Denn diese Kraft führte zur Trennung der sich liebenden Schwestern, weil Elsa ihre geliebte Anna vor sich schützen wollte. Doch gerade ihre Liebe würde es schließlich ermöglichen, diese Herausforderung zu meistern. Tatsächlich liegt auch für Elsa der konstruktive Umgang mit ihren Fähigkeiten nicht in der Selbstisolation, sondern in der Liebe. Wenn ihre „Eis-Energie“-Ausbrüche nicht vom Gefühl der Wut oder Verzweiflung gespeist sind, sondern aus der Liebe kommen, kann sie ihre Kräfte nämlich gezielt steuern. Schließlich kann sie im Sommer einem Schneemann das Leben erhalten oder eine Schlittschuhbahn erschaffen.
Trotzdem wird für eine spannende Geschichte ein Antagonist gebraucht. Dazu mauserte sich schließlich eine Figur, die anfänglich durchaus sympathisch wirkt, denn es ist der Mann, in den sich Anna zunächst verliebt. Doch seine Liebe zu ihr ist nicht echt, sondern entstammt eiskalter Berechnung. Hans‘ Bosheit entspringt seinem Bedürfnis nach Macht und sich dafür auch skrupellos der Gefühle anderer zu bedienen und sogar über ihre Leichen zu gehen… Doch Anna durchschaut schließlich seine Täuschung und entscheidet sich für die Liebe – zu ihrer Schwester.
Die Magie der Reifung
Also macht nicht nur Elsa einen wichtigen Reifungsprozess durch. Vom bedauernswerten Mädel, dass das Opfer ihrer „schrecklichen Kräfte“ ist, zur selbstbewussten Frau, die lernt, mit Liebe ihre Kräfte zu kontrollieren. Man könnte sagen: sie wird vom ohnmächtigen Opfer ihrer Gabe (und vermeintlichen Täterin, die anderen mit ihrer Kraft Schaden zufügt) zur bewussten Schöpferin.
Auch Anna begreift etwas Lebenswichtiges und wird darüber erwachsen. Sie lernt, die wahre Liebe zu unterscheiden von den romantischen Sehnsüchten eines einsamen Teenagers, derer sich Hans bei ihr bedient. Anna erkennt, dass partnerschaftliche Liebe nicht auf scheinbar mystischen Zufällen basiert. Echte Liebe gründet in zweifelsfreiem Vertrauen, Ehrlichkeit und der Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen. Damit erweist sie sich dann auch der Zukunft mit dem anständigen Kristof für würdig.
So reflektieren beide Schwestern wesentliche Aspekte eines Reifungsprozesses und erfahren ein deutliches Bewusstseinswachstum. Und so wesentlich Annas Erleben zum Erwachsen werden dazu gehört, umso faszinierender ist doch Elsas Werdungsprozess. Denn es geht darum, sich nicht mehr vor den eigenen Kräften zu fürchten. Wir müssen lernen, mit ihnen sinnstiftend umzugehen. Dies ist tatsächlich eine Sehnsucht, die viele bewusst oder unbewusst haben. Es erinnert an den Text, der oft Nelson Mandela zugesprochen wird, aber tatsächlich von Marianne Williamson stammt: „Unsere tiefste Angst nicht, dass wir unzulänglich sind. Unsere tiefste Angst ist, dass wir unermeßlich machtvoll sind. Es ist unser Licht, das wir am meisten fürchten, nicht unsere Dunkelheit. “ (Aus Marianne Williamson: Rückkehr zur Liebe)
Selbstermächtigt und bewusst lieben
Damit wird Elsa mit ihrem Lied der Selbstermächtigung schließlich zur Ikone. Besonders für all jene, die die Erfahrung in ihrem Leben machen oder gemacht haben, in ihrem Selbstausdruck eingeschränkt zu werden. Und sie trägt auch noch unsichtbar, aber spürbar, ihre Entwicklung von der zunächst als negativ und böse wahrgenommenen Figur, die letztlich zum positiven Sympathieträger wird. Das stärkt den Film mythologisch und metaphysisch. Denn auch das ist eine Erfahrung die viele nachvollziehen zu können. Zunächst dämonisiert zu werden, bis man schließlich mit den Augen der Liebe gesehen wird. Oder umgekehrt: man fürchtet etwas oder jemanden, bis man es mit Liebe sehen kann und Mitgefühl entwickelt.
Dass dieser Film gerade in Japan sehr beliebt ist, ist kaum verwunderlich. Denn dort haben Frauen noch mit einem sehr engen gesellschaftlichen Rollenbild zu kämpfen. Gleichzeitig haben die Japanerinnen eine große Sehnsucht nach Liebe und unzensiertem kreativem Ausdruck. Es geht um die Leidenschaft, ungehindert die eigene Wahrheit zu leben und sich dieses Recht – mit allen Konsequenzen – auch zu nehmen.
So lange sich in unseren Kulturen Menschen noch durch Traditionen und gesellschaftliche Regeln und Konventionen behindert oder ausgebremst fühlen – so lange dürfte der Film seine Erfolgsgeschichte ungehindert fortsetzen. Nach wie vor verkleiden sich kleine Mädchen gerne als Elsa. Sie machen „Elsa-Kindergeburtstage“, wo sie sogar zur Kuchendeko wird, wie das Titel-Foto zeigt. Elsa wird so lange weiter zur Kultfigur, wie wir alte Beschränkungen loslassen müssen, um wahrhaft unser befreites Selbst zu sein…
Nachtrag 19. Juni 2015
Mädchen machen Sport im Elsakostüm
Eine Gruppe amerikanischer Mütter von Ballett-Elevinnen dachte darüber nach, wie sie ihre 3- und 4jährigen Töchter zum Softballspielen animieren könnten. Was bräuchte es, um alle Mädchen dafür zu begeistern? Eine von ihnen kam auf den Disneyfilm „Die Eiskönigin“, den all diese kleinen Mädchen kennen und lieben. Und die frischgekürte Softballmannschaft bekam den Namen „Freeze“ (etwa „einfrieren!“) und spielte – entsprechend den Kostümfarben der Filmheldin Elsa – in türkisweißer Kleidung. Die inzwischen 4-5jährigen Mädchen spielten als jüngstes Team in der Softball-Liga von Edmond. Sie landeten auf dem allerletzten Platz, aber hatten enorm viel Spaß. Erfolg wurde nicht in Punkten, sondern in Lächeln und Lachen gemessen. So entschieden sie am Ende der Saison, dass ihr Mannschaftsfoto diesen Spaß reflektieren sollte.
Betsy Gregory, eine der Mütter, die nebenbei als Fotografin arbeitet, sollte das Foto machen. Sie fragte die anderen Mütter, ob jede ihrer Töchter ein Elsa-Kleid habe und tatsächlich war dem so. Also kamen sie alle in ihrem Elsa-Kleid und ihren Softballutensilien zum Fototermin. Kurz bevor sie auf den Auslöser drückte, sagte Betsy zu den Mädchen, sie sollten sich vorstellen, dass ihr Bruder sie beklaut hätte. Daraufhin bekamen sie einen mächtig kriegerischen Gesichtsausdruck. Und jetzt drückt das Foto genau das aus, wofür die Filmfigur Elsa steht: „Es ist OK, stark und ermächtigt zu sein! Auch als kleines Mädchen!“
Kaum war das Foto online wurde es in Amerika zum Internethit – und landete schließlich auch in einem meiner Facebookthreads. Die weiteren Informationen und das Foto habe ich von hier.